Der Wolf
Besen.
Die Fenster zu öffnen und das Haus zu lüften überstieg ihre Kräfte – auch wenn sie wusste, wie nötig das gewesen wäre. Ein offenes Fenster erschien ihr wie eine Einladung an kalte Luft, an Probleme und womöglich Schlimmeres.
Ebenso wenig schaffte es Sarah, mit dem Staubwedel in das Arbeitszimmer ihres Mannes oder das Zimmer ihrer Tochter zu gehen. Die blieben geschlossen.
Normal
hatte seine Grenzen.
Als sie ihr Zuhause in einen einigermaßen vernünftigen Zustand versetzt hatte, trat Sarah unter die Dusche und genoss das dampfend heiße Wasser, bis ihr die Wärme wohlig in die verspannten Muskeln drang. Unfähig, sich zu rühren, stand sie fast wie eine Statue unter dem Strahl, weniger von der Erschöpfung als dem Aufruhr in ihrem Kopf gelähmt. Als sie sich Haar und Körper einschäumte, schienen ihre Hände über die Haut einer Fremden zu streichen. Nichts war ihr vertraut – weder die Form ihrer Brüste noch die Länge ihrer Beine oder ihre verfilzten Locken. Danach stellte sie sich nackt vor den Spiegel und hatte das Gefühl, ihr blicke ein eineiiger Zwilling entgegen, dem sie, von Geburt an getrennt, nie zuvor begegnet war und der erst vor wenigen Sekunden plötzlich wieder in ihr Leben getreten war.
Ihre Kleidung wählte sie mit Bedacht unter den Sachen aus, die sie früher einmal zur Arbeit an der Grundschule getragen hatte – eine schlichte Hose zum Pulli. Als sie noch einen Beruf, einen Ehemann und eine Familie besessen hatte, waren sie bequem gewesen. Jetzt, da all das verloren und sie aufgrund ihrer Depressionen abgemagert war, schlabberten sie ihr am Körper, und sie fragte sich, ob sie je wieder hineinwachsen würde.
Sie holte ihren Mantel, bürstete ein paar Flusen ab und suchte nach ihrer Schultertasche. Sie sah zwei Mal nach, um sich zu vergewissern, dass der Revolver ihres Mannes darin war.
»Normal zu sein heißt noch lange nicht, dämlich zu sein«, sagte sie laut.
Dabei war sie nicht ganz sicher, ob die These stimmte.
Sarah trat in die schwache Nachmittagssonne. Sie merkte, wie ihr die Hände zuckten und die Angst in ihr hochkroch. Es drängte sie, stehen zu bleiben, die Straße in beiden Richtungen nach dem kleinsten Hinweis dafür abzusuchen, dass der Wolf in der Nähe war. Als sie dem Drang widerstand, fühlte sie sich vollkommen ausgeliefert.
Wer normal ist, machte sie sich klar, braucht sich nicht ständig nervös umzusehen und bei jedem Schritt zu zögern.
Als ihr die Idee kam, dass ihr Mann nur einmal kurz in die richtige Richtung hätte sehen müssen, um die Tragödie vielleicht noch zu verhindern, fuhr es ihr eiskalt über den Rücken. Schnell blockte sie den Gedanken an eine mögliche Mitschuld ab.
Stattdessen lief sie zügig zu ihrem Wagen und setzte sich wie jeder andere normale Mensch, der etwas zu erledigen hatte, ans Lenkrad.
Sie hatte etwas zu erledigen. Doch mit Routine hatte diese Fahrt wenig zu tun. Vielmehr würde sie das Banale mit dem traurigsten Ziel verbinden, das es für sie geben konnte.
Die erste Etappe war denkbar alltäglich: der Lebensmittelladen um die Ecke. Sie besorgte sich einen Einkaufswagen und füllte ihn mit Salaten, Obst, magerem Fleisch und Fisch. Sie kaufte Mineralwasser und Säfte. In den Gängen mit den gesunden Lebensmitteln fühlte sich Sarah ein wenig fremd. Es war schon lange her, dass sie das letzte Mal etwas Nahrhaftes zu essen gekauft hatte.
In der Blumenabteilung suchte sie zwei preiswerte, bunte Sträuße aus.
Die Kassiererin nahm Sarahs Kreditkarte und zog sie durch den Apparat, während Sarah verlegen dabeistand, weil sie sicher war, dass sie längst das Limit erreicht hatte. Als die Abbuchung reibungslos funktionierte, war sie erstaunt.
Sie schob den Einkaufswagen zum Auto und achtete darauf, sich ganz auf das Umladen der Lebensmittel zu konzentrieren und nicht durch nervöse Blicke Aufmerksamkeit zu erregen. Sie fühlte sich wie ein wildes Tier. Der Instinkt der Wachsamkeit gegenüber einer Bedrohung war übermächtig.
Zu deinem nächsten Ziel wird der Wolf dir bestimmt nicht folgen, dachte sie. Und was würde er schon erfahren, selbst wenn er es täte?
Nichts, was er nicht längst weiß.
Während sie sich einschärfte, jede Angst im Keim zu ersticken, verfrachtete Sarah ihre Einkäufe im Kofferraum. Dann stieg sie ein, holte tief Luft und fuhr vom Parkplatz auf die Straße.
Im Berufsverkehr wechselten die Autos unablässig die Fahrbahn und fuhren zu dicht auf. Zu Stoßzeiten herrschte auf den
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