Der Wolf
üblichen, hastig über den Stein gesprühten Obszönitäten voller Rechtschreibfehler. Sarah trat vor, wie hypnotisiert von den Zeichen.
Sie waren weiß. Sie verliefen schräg über den Stein, quer über beide Namen und das Todesdatum.
Es waren vier.
Sarah hatte nie den Pfotenabdruck eines Wolfs gesehen, doch sie wusste, was sie vor sich hatte.
Sie ließ die Blumen auf den Fußweg fallen und rannte.
[home]
19
D er Barkeeper des
Sir Laughs-A-Lot,
der heute verantwortlich für den Ablauf der Comedyshow war, winkte hektisch in Karens Richtung und zeigte auf den ausgefransten schwarzen Vorhang, hinter dem sich der Eingang zur Bühne befand, als sie plötzlich das Handy in ihrer Handtasche klingeln hörte. Ihr erster Gedanke war: ein medizinischer Notfall, der keinen Aufschub duldet. Ohne Rücksicht auf den Mann, der ihr eindringlich zuflüsterte: »Worauf warten Sie, Doc. Sie sind dran, Hals- und Beinbruch, reißen Sie die vom Hocker!«, griff sie nach ihrer Tasche.
Als sie sah, dass es nicht ihr normales Handy war, sondern ihr Prepaid-Handy, das gleiche, das sie auch für Rote Zwei und Rote Drei gekauft hatte, zögerte sie.
Die Anruferkennung lautete: Sarah.
Karen streckte schon die Hand nach dem Telefon aus, als sie hörte, wie der Angestellte zu ihr sagte: »Hoffe, es geht da um Leben und Tod. Wir haben nämlich ein vollbesetztes Haus, und die Leute werden schon unruhig.«
Als Karen den Kopf hob, sah sie, dass er mit einer Hand den Vorhang aufhielt und sie mit der anderen auf die Bühne komplimentierte. Hinter ihm im Scheinwerferlicht konnte sie den Clubbesitzer erkennen, der ihren Auftritt ankündigte.
»Begrüßen Sie mit mir Doktor K.!«, sagte er gerade, während er von einem Standmikrofon zurücktrat und in ihre Richtung zeigte.
Sie warf einen kurzen Blick auf das Handy, das in diesem Moment verstummte. Auf dem Display stand:
1
neue Nachricht.
Für Sekunden war sie hin- und hergerissen. Sie hörte das Flüstern des Mannes, der sie zum Auftritt drängte. Gleichzeitig verlangte das Handy ihre Aufmerksamkeit.
Nach Sekunden der Unentschlossenheit ließ sie es in ihre Tasche fallen und schnappte sich die Flasche Wasser, die ihr der Mann entgegenhielt.
The show must go on,
dachte sie, auch wenn das vielleicht eine Täuschung war. Karen trat ins Rampenlicht.
Passend zu einer schwarz gerahmten Brille und der albernen gekräuselten Frisur setzte sie ein breites, etwas einfältiges Grinsen auf und winkte ins Publikum. Sie trug ihr übliches Comedykostüm aus roten Knöchelturnschuhen, einem schwarzen Rollkragenpullover zur Jeans, einem weißen Arztkittel und einem alten, nicht mehr funktionstüchtigen Stethoskop, das ihr wie eine Schlinge um den Hals hing.
In diesem winzigen, alternativen Club bedeutete »volles Haus« ein Publikum von etwa fünfzig Leuten. Zwar konnte sie jenseits des Scheinwerferlichts nichts erkennen, aber sie wusste, dass sich Paare und Vierergruppen über den höhlenartigen, schummrigen Raum verteilten. Sie saßen an Tischen, und die bedrängten Kellnerinnen hatten ihre liebe Not damit, Bier und Burger zu servieren und alle neuen Bestellungen aufzunehmen, bevor die nächste Nummer begann. Sie roch Fritten und hörte von ferne das Brutzeln aus der kleinen Küche.
Sie wurde mit zaghaftem Applaus begrüßt, für den sie sich mit einer übertriebenen Verbeugung bedankte.
»Wissen Sie, was mir wirklich stinkt?«, sagte sie in trällerndem Tonfall. »Wenn du ein Rezept ausstellst und draufschreibst › 2 x täglich‹, und die Patienten gehen automatisch auf die doppelte Dosis, weil … wenn es ihnen von zwei Tabletten bessergeht, was bringen dann erst vier!!«
Sie legte eine Pause ein, sah durch das blendende Licht in Richtung Publikum und lächelte.
»Von Ihnen macht das natürlich keiner …«
Ihr schwappte eine Welle leises, schuldbewusstes Lachen entgegen.
»Ich meine, nicht jeder von uns ist scharf darauf, ein Tablettenjunkie zu werden.«
Diese Beleidigung wurde mit einer etwas lauteren Reaktion belohnt. Hier und da ertönte ein leiser Zwischenruf, »Klar, wieso nicht!« oder »Und ob!«, aus dem Publikum.
»Da fällt mir natürlich dieser Suchtpatient ein …«, fuhr sie fort.
Sich über Drogen lustig zu machen und sich ein bisschen naiv über die Bedürfnisse von Patienten auszulassen gehörte zu ihrer Masche. Immer wenn sie unsicher war, wie ihr Humor ankommen würde, riss sie Witze über Dinge, die alles andere als witzig waren. Dafür hatte sich noch jedes Publikum
Weitere Kostenlose Bücher