Der Wolf
richtigen Schenkel finden, sehen wir, was uns verbindet.«
»Und was dann?«, fragte Karen.
»Ich glaube, es gibt nur eine Antwort«, erwiderte Jordan.
»Ich dachte, wir hätten keine Antworten«, warf Sarah düster ein.
»Ich glaube, wir haben die Sache falsch angepackt«, sagte Jordan. »Den Fehler macht praktisch jedes Stalking-Opfer.«
»Nämlich?«, hakte Karen nach, obwohl sie bereits wusste, was das junge Mädchen vorzuschlagen hatte.
»Statt ihm auszuweichen, müssen wir ihn anlocken. Wir müssen dafür sorgen, dass er uns nahe genug kommt, um zu sehen, mit wem wir es zu tun haben. ›Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren … Was hast du für große Augen, was für ein entsetzliche großes Maul …‹«
Jordan schlug sich mit der Faust in die offene Hand.
»Das ist Rotkäppchens Rettung …«
»Sicher, in der harmlosen Fassung«, murmelte Sarah.
Jordan überhörte sie. »Wir wissen, dass der Wolf uns kriegen will. Wir müssen dafür sorgen, dass er an nichts anderes mehr denken kann, dass er es nicht abwarten kann und einen Fehler macht.«
Jordan musterte die beiden anderen Roten. Sie hielt sie für reife, intelligente, gestandene Frauen, all das, was sie selbst einmal werden wollte. Falls ihr die Zeit dazu bliebe.
»Was würden wir machen, um einen Wolf zu jagen?«
»Uns erst mal nahe genug heranpirschen, um ihn zu sehen«, sagte Karen.
»Genau, und dann?«, fragte Jordan weiter. Die Situation war seltsam: Sie übernahm die Rolle des Lehrers, während die anderen beiden wie Schüler reagierten.
Weder Karen noch Sarah schien dazu etwas einzufallen, und so beantwortete sie ihre eigene Frage mit einem einzigen Wort.
»Hinterhalt.«
Sarah zitterte einen Moment, doch dann zuckte sie die Achseln. Warum nicht?, dachte sie. Ich bin sowieso schon halbtot.
Ohne zu wissen, wieso, brach sie in ein schrilles, trockenes Lachen aus, als hätte sie allein einen etwas verfänglichen Witz gehört, der zugleich lustig und anrüchig war. Sie stand auf, griff sich unter den Pullover, befreite sich von dem Kissen und warf das Klebeband, mit dem sie es festgebunden hatte, in einen Abfalleimer in der Nähe. Dann nahm sie die Nadeln heraus, mit denen sie die Perücke festgesteckt hatte, und schüttelte ihr eigenes Haar, so dass es wie glühende Lava an einem Berghang herunterfiel.
Fast im selben Moment stand der Böse Wolf neben seinem Auto und starrte auf einen fast platten Reifen. Er befand sich direkt vor seinem Haus und hatte eine Aktentasche mit seinem Aufnahmegerät und seinem Notizbuch dabei, in dem er die Fragen für den abendlichen Vortrag des Forensikexperten vor dem Verband der Krimiautoren aufgeschrieben hatte. Es wurde bereits dunkel, und sein erster Gedanke war, dass er wegen dieses banalen Missgeschicks den Vortrag verpassen würde. Frustriert trat er gegen den Reifen. Er bückte sich und suchte nach dem Nagel, der irgendwo im Gummi stecken musste und vermutlich für eine kleine, undichte Stelle verantwortlich war, doch er konnte nichts entdecken. Womöglich war er auch in eines der in Neuengland allgegenwärtigen Schlaglöcher gefahren, so dass sich der innere Reifenrand verzogen und den Platten verursacht hatte. Er musste den Pannendienst anrufen, damit sie den Reifen wechselten, womit bestenfalls am nächsten Tag zu rechnen war, und all das würde ihn von seinem eigentlichen Vorhaben abhalten – sich den drei Roten an die Fersen zu heften.
Er wollte gerade ins Haus zurückkehren, als er Mrs. Böser Wolf im Eingang stehen sah.
»Was ist, Schatz?«, fragte sie.
»Hab einen Platten. Ich muss die Werkstatt anrufen und …«
Mit einem Lächeln fiel sie ihm ins Wort. »Nimm einfach meinen Wagen. Ich ruf den Automobilclub an. Die schicken mit Sicherheit noch heute jemanden vorbei. Macht mir wirklich nichts aus, und du schaffst es immer noch zu deinem Autorenseminar.«
»Bist du dir ganz sicher?«, fragte der Böse Wolf und strahlte über das verlockende Angebot. »Ich weiß, wie lästig das Ganze ist …«
»Kein bisschen. Ich wollte sowieso nur fernsehen, während du weg bist. Macht mir nichts aus, vor der Glotze zu sitzen und auf den Mechaniker zu warten.«
Sie reichte ihm ihre Wagenschlüssel. »Aber pass gut auf mein Baby auf«, sagte sie im Spaß. »Du weißt, dass er auf der Autobahn nicht gerne rast.«
Der Böse Wolf sah auf die Uhr. Er hatte reichlich Zeit.
»Also dann, Liebling«, sagte er beschwingt. »Danke. Bis später. Lass einfach eine Lampe an, dann wecke ich
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