Der Wolf
wir Händchen gehalten haben? Und wie er dir in diesem sanften, beruhigenden Ton gut zugeredet hat? Er war so liebevoll.
Aus dem Wohnzimmer schallte die nächste Salve herüber. Brüllendes Gelächter. Prustendes, glucksendes Gelächter. Und zweifellos nichts weiter als das künstliche, genau kalkulierte Produkt einer Maschine.
Ohne sich die entscheidende Frage zu stellen, antwortete sie laut: »Das geht nicht. Das geht einfach nicht.«
Es folgte ein heftiger Widerstreit der Gefühle.
Es ist sein ureigenster Bereich.
Er wird es ja nie erfahren.
Du kannst sein Vertrauen nicht missbrauchen.
Was soll daran so schlimm sein? Ihr beide teilt doch alles miteinander. Du tust nichts weiter, als ein paar Zeilen in dem Buch zu lesen, das er da drinnen schreibt – für dich! Nur ein paar Worte, einfach nur, um ein Gefühl dafür zu bekommen, worum es geht. Etwas, wovon du träumen kannst, während er so hart arbeitet, um es zu Ende zu bringen.
Mrs. Böser Wolf ließ kein Für und Wider aus. Dabei schienen Privatsphäre oder Neugier gar nicht mal das Entscheidende zu sein. Für sie ging es um das, was die Liebe gebot, doch am Ende war ihre Neugier stärker:
Ich weiß, dass er es gerne sehen würde, wenn ich ein paar Seiten lese. Ich weiß es einfach. Eigentlich wundert es mich, dass er mir nicht längst ein paar Kostproben vorgelesen hat.
Dass dies schlicht und ergreifend falsch war und sie das in irgendeinem Winkel ihres Unterbewusstseins auch wusste, focht Mrs. Böser Wolf nicht an. Als Lügnerin fühlte sie sich trotzdem nicht, eher als waghalsig und etwas verwegen, wie ein Kind, das dem Reiz des aus unerfindlichen Gründen Verbotenen nicht widerstehen kann und heimlich durchs Badezimmerschlüsselloch späht, um in einer Mischung aus Faszination und schlechtem Gewissen den nackten Körper eines nichtsahnenden Erwachsenen zu sehen.
Sie nahm den Schlüssel und zitterte auf ihrem Weg zur Arbeitszimmertür ein wenig, da sie tief im Innern wusste, dass sie etwas ganz und gar Unrechtes tat, aber einfach nicht anders konnte.
Der Schlüssel passte mühelos in das Riegelschloss.
Mit einem leisen Klicken schnappte es auf.
Sie öffnete die Tür und blieb an der Schwelle stehen. Aus der Küche und dem Wohnzimmer hinter ihr sickerte Licht in das stockdunkle Arbeitszimmer. Sie befahl sich weiterzugehen und knipste die Deckenlampe an.
Als es plötzlich hell wurde, schloss sie einen Moment die Augen. Eine Stimme in ihr, die es offenbar besser wusste, mahnte sie eindringlich, das Licht auszuknipsen, zurückzutreten und die Augen erst wieder aufzumachen, wenn sie die Tür zugeschlagen hatte, dann abzuschließen und wie angekündigt fernzusehen.
Sie spürte eine Woge der Gefahr, einer prickelnden Gefahr, in die sich mindestens ebenso viel Abenteuerlust mischte. Nur ein bisschen erfahren.
Das bleibt dein süßes Geheimnis.
Mit einem Lächeln öffnete sie die Augen.
Als Erstes blickte sie auf eine Wand mit unterschiedlich großen Fotos. Unter den Bildern hingen jeweils linierte Karteikarten in grellen Farben – Lindgrün, Flieder, Gelb – mit Daten sowie kurzen Orts- und Zeitangaben. Das Ganze wirkte erschreckend gut organisiert und gleichzeitig irritierend abstrus.
Sie trat an die Wand. Ihr Blick blieb an einem Bild hängen. Sie sah rotes Haar.
»Aber das ist ja Doktor Jayson«, flüsterte sie.
Dann trat sie noch näher heran und betrachtete ein anderes Foto. Wieder rote Haare.
»Jordan?«, fragte sie, auch wenn die Antwort offensichtlich war.
Wie eine Blinde tastete sie nach einem der Fotos.
»Und wer bist du?«, fragte sie die dritte Frau. Es war eine rothaarige Frau, die an einem Sommernachmittag auf einem leeren Parkplatz stand. Sie konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn die Frau hielt sich die Hände davor.
Sie bemerkte linierte Blätter mit den Worten
Rote Eins, Rote Zwei
und
Rote Drei
und so etwas wie Zeitplänen darunter:
Geschichtsunterricht, Lehrgebäude Nr.
2
, MoDiMiDoFr.
Sie wandte sich um und las:
Sprechstunde
8
:
30
–
12
:
30
,
60
Min. Pause. Mittagessen häufig im Ace Diner, Subway oder Fresh Side Salad Store. Rückkehr
13
:
00
. Sprechstunde.
Ein weiteres Blatt Papier war in drei Abschnitte gegliedert. Unter
Rote Eins
kam eine Liste mit
Lieblingsorten
wie Adressen von Geschäften oder Nachtclubs. Eine ähnliche Liste – wenn auch kürzer – gab es für Rote Zwei. Unter einem Bild von Jordan und der Kennzeichnung als Rote Drei folgte ein Terminplan mit Basketballspielen.
Mrs. Böser Wolf
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