Der Wolf
trat zurück.
Sie wusste nicht, ob sie es laut aussprach oder nicht, doch die Worte
Was soll das?
schienen in dem kleinen Raum widerzuhallen.
Es folgte eine deutliche, leise Bemerkung: »Ich versteh das nicht.« Die Fotos erschienen ihr unwirklich und rätselhaft. Ihr fiel kein vernünftiger Grund ein, was sie dort zu suchen hatten. Ihr geisterte der lahme Satz durch den Kopf: Es muss eine harmlose Erklärung dafür geben.
Sie zermarterte sich das Hirn: eine klare schriftstellerische Vorstellung davon, wie man eine Geschichte aufrollt, ein zentraler Aspekt jenes geheimnisvollen, schöpferischen Prozesses, den sie nicht verstand, der dagegen einem anderen Autor vollkommen plausibel erscheinen mochte. Offenbar gingen seine fiktiven Figuren auf reale Personen zurück. Das muss es sein, hämmerte sich Mrs. Böser Wolf ein. Das ist dir nur zu hoch. Du gehörst nicht zu diesen kreativen Menschen, die solche komplexen Zusammenhänge verstehen. Vielleicht würden einem anderen Schriftsteller all diese Fotos und die Notizen dazu vollkommen logisch erscheinen.
Andererseits waren sie für ihren Geschmack viel zu direkt und zu provokativ. Während sie auf die Fotos starrte, wurde ihr klar, dass sie alle von einem Versteck aus aufgenommen worden waren. Vielleicht im Schutz eines Baums. Oder durch die heruntergekurbelte Scheibe eines Autos. Vielleicht auch an einer Mauerecke. Aus dem Fenster im Obergeschoss eines Bürogebäudes. Auf keinem der Bilder schien die Abgebildete die leiseste Ahnung zu haben, dass gerade ein Foto von ihr entstand.
Ein Stalker würde solche Aufnahmen machen. Ein besessener Verehrer oder geistesgestörter Liebhaber mochte eine solche Wand wie eine Art Schrein in seinem Zimmer haben. Doch diese Überlegungen huschten ihr nur schemenhaft durch den Kopf, während das gleißende Licht und schrille Kreischen in ihrem Inneren den Verstand ausblendeten.
Nein, nein, nein, dachte Mrs. Böser Wolf. Die mechanische Wiederholung dieses Worts beruhigte sie ein wenig.
Sie taumelte zurück, versuchte sich jedoch zu fassen und wandte sich trotzig dem Computer zu. Auf dem Schreibtisch neben dem Drucker lag in einem DIN -A 4 -Ablagekorb mit der beschriebenen Seite nach unten ein Stapel Papiere.
Er roch geradezu nach einem Roman!
Mrs. Böser Wolf drehte das oberste Blatt um.
Sie las eine einzige Zeile am Anfang der Seite.
Nur ein Narr denkt an das Ende. Dabei bereitet das Töten selbst die größte Lust. Wie sehr ich diesen Augenblick herbeisehne!
Mit zitternder Hand legte sie das Blatt auf den Stapel zurück.
Zum ersten Mal in ihrer Ehe hatte sie nicht das Bedürfnis, weiterzulesen.
Innerlich schien sie in eine Art Vakuum hinübergeglitten zu sein, einen Zustand, in dem ihr Gehirn sich weigerte, irgendeine Information zu verarbeiten, vor allem das, was sie vor Augen hatte. Durch ihren Kopf geisterten Ideen, Gedanken, Vermutungen und schrien danach, ernst genommen zu werden, doch sie überhörte den Tumult.
»Ich versteh das nicht«, sagte sie laut. Im selben Moment ergriff sie die Angst, dass ihre hilflose Bemerkung in diesem Raum unauslöschliche Spuren hinterlassen könnte.
»Das darf alles nicht wahr sein«, flüsterte sie, ohne dass sie sagen konnte, was sie unter »wahr« verstand.
Sie wandte sich dem Computer zu. Mit bebenden Fingern bewegte sie die Maus. Auf dem Bildschirm erschien die Aufforderung zur Passworteingabe.
Mrs. Böser Wolf trat zurück. Einerseits war sie sich ziemlich sicher, dass sie das Passwort herausbekommen konnte – vielleicht ist es ja mein Name –, doch eine lautere Stimme brüllte in ihrem Kopf, dass sie es lieber nicht versuchen sollte, weil sie gar nicht wissen wollte, was sie dort erwartete.
Sorgfältig stellte sie den Ruhemodus wieder her. Sie hatte deutlich das Gefühl, dass sie eine Grenze überschritten hatte.
Tausend Gedanken bestürmten sie, sie verstieg sich zu Spekulationen, die ihr nicht weiterhalfen. Ein bisschen war es so, als sei sie auf eine geheime Datei mit äußerst fragwürdigen pornographischen Bildern gestoßen. Bildern von Kindern. Nur dass es hier gar nicht um schmutzige, illegale Bilder ging.
Sie hatten etwas anderes zu bedeuten.
Noch einmal betrachtete sie die Wand mit den Fotos, doch bevor sie sich ernsthaft darauf konzentrieren konnte, was sie zu bedeuten hatten, schloss sie die Augen. Falls es etwas zu sehen gab, dann sah sie es lieber nicht.
Sie hatte nur noch den Wunsch, langsam und vorsichtig den Rückzug anzutreten, und zwar so,
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