Der Wolf
zurück und kippelte mit dem Stuhl. Sie sah sich um und musterte jeden in ihrem Blickfeld. Dabei wusste sie, dass der Wolf in diesem Moment nicht da war. Es machte jedoch keinen Unterschied. Er hatte bei ihr den Eindruck erweckt, immer in ihrer Nähe zu sein, fast, als säße er in der Kabine nebenan und verstecke sein Grinsen hinter einem Stapel Forschungsmaterial. Dieses ständige Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, nagte an allen drei Roten.
Innerlich stellte sie sich die bohrende Frage: Woher soll ich wissen, wann ich in Sicherheit bin und wann nicht? Du siehst dich um und kannst niemanden entdecken, aber das heißt noch nichts, oder?
Diese Fragen gingen ihr unentwegt durch den Kopf. Schließlich stand sie abrupt auf, schob die Bücher zur Seite, schnappte sich ihren Laptop, steckte ihn in den Rucksack und verließ mit zügigen Schritten die Bibliothek. Draußen auf der Eingangstreppe wurde ihr bewusst, dass der Wolf dort irgendwo lauern mochte – oder auch nicht.
Wann immer sie sich sagte, er sei nicht da, folgte der Gedanke: Vielleicht doch. Die Ungewissheit verfolgte sie auf Schritt und Tritt.
Sie zog fröstelnd die Schultern ein und lief so schnell wie möglich zu ihrem Wohnheim. Wieder erwartete sie ein Abend, an dem sie ihre Hausaufgaben vernachlässigte, und eine Nacht, in der sie sich ruhelos hin und her warf.
Der nasskalte Abend war nichts im Vergleich zu der eiskalten Erkenntnis: Ich kann nicht weg. Ich kann mich nicht verstecken. Im Gegenteil: Ich muss so nahe wie möglich an ihn heran, um ihn deutlich zu erkennen.
Die entscheidende Frage blieb, wie sie das anstellen sollte. Es war nicht nur schwierig, sondern äußerst gefährlich.
Sie war so darin vertieft, eine Antwort zu finden, dass sie erst nach einer Weile das Handy in ihrem Rucksack klingeln hörte.
Auch Sarah war in der Abenddämmerung draußen, um von der kalten Luft einen freien Kopf zu bekommen. Die Kälte spürte sie kaum. Schon merkwürdig, dachte sie, wie warm einen ein bisschen Todesangst hält.
Es hatte sie nicht im Haus gehalten. Auch die Glotze, die immer im Hintergrund lief, hatte sie nicht ablenken können. Erinnerungen und Ängste hatten sich zu einer diffusen Beklommenheit verdichtet; sie hatte gewusst, dass sie etwas unternehmen musste, nur nicht, was.
Ins Kino gehen? Lächerlich.
Alleine essen gehen? Was Blöderes fällt dir wohl nicht ein!
Die nächstbeste Bar ansteuern und was trinken? Geniale Idee!
Sie hörte förmlich das Echo ihres Sarkasmus im Kopf widerhallen.
Und da ihr nichts anderes eingefallen war, hatte sie sich ein Paar Joggingschuhe angezogen und war zu einem Spaziergang aufgebrochen, auch wenn ihr bewusst war, welche Angriffsfläche sie damit bot.
War sie eine Straße entlanggegangen, kehrte sie auf der Parallelstraße zurück und wanderte so ziel- und planlos wie möglich durch ihr Viertel. Als sie an einigen Häusern von Freunden und Nachbarn vorbeikam, bei denen sie früher ein und aus gegangen war, lief sie zielstrebig weiter. Ein paarmal war sie anderen Leuten begegnet, vor allem Hundebesitzern beim letzten Gang um den Block, doch sie hatte hinter ihrem Mantelkragen den Kopf eingezogen und gezielt an den Leuten vorbeigeschaut. Zwar hielt sie es für unwahrscheinlich, dass sich irgendjemand, der gerade aus dem Büro nach Hause gekommen war und mit Fido oder Spot für das abendliche Geschäft und ein bisschen Auslauf unterwegs war, als Böser Wolf entpuppte, andererseits kam ihr zu Bewusstsein, dass dieses Szenario nicht wesentlich unwahrscheinlicher war als jede andere Befürchtung. Wieso soll ein Typ, der seinen Köter ausführt, kein Killer sein? Die einzigen Hundehalter, die sie sicher ausschließen konnte, waren diejenigen, deren Lieblinge allzu aufdringlich waren und sich nicht davon abbringen ließen, jeden Fremden auf der Straße schwanzwedelnd zu beschnüffeln. Doch nachdem sie den dritten Hund dieser Sorte, der sie trotz der verlegenen Entschuldigungen und Ermahnungen seines Besitzers belästigte, hinter den Ohren und am Hals gekrault hatte, schoss ihr die Frage durch den Kopf: Was spricht dagegen, dass ein Mörder einen freundlichen Hund hat?
Einerseits hoffte sie, dass sie in der einbrechenden Dunkelheit nur schwer zu erkennen wäre, andererseits schlich sich auch der Gedanke ein, es könnte das Beste sein, wenn der Böse Wolf die Gelegenheit nutzte und die Sache schnell zu Ende brachte. Fast schien es ihr wichtiger, dass die schreckliche Ungewissheit ein Ende nahm, als dass
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