Der Wolf
blieb es am anderen Ende stumm, und die Stille schien immer lauter und schriller zu werden, bis sie sich wie ein Orchester kurz vor dem symphonischen Schlussakkord zu einem letzten Crescendo steigerte.
Dann, ganz plötzlich, war es vorbei.
Rote Eins legte den Hörer langsam wieder auf die Gabel; das Gleiche tat Rote Zwei. Drei steckte ihr Handy in den Rucksack. Doch bevor sie aufstanden oder zurücktraten oder weitergingen, taten sie alle dasselbe: Sie überprüften die Rufnummer auf ihrem Display. Dabei hegte keine von ihnen auch nur die leiseste Hoffnung, dass sie auf diese Weise dem Bösen Wolf auf die Schliche kommen könnte.
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23
M rs. Böser Wolf lag wie ein zerknülltes, weggeworfenes Blatt Papier im Bett. Es war kurz nach Sonnenaufgang, und sie starrte über das verkrumpelte Bettzeug hinweg zu ihrem Mann, der neben ihr fest schlief. Sie horchte auf seinen friedlichen, ebenmäßigen Atem und wusste aus langjähriger Erfahrung, dass er genau in dem Moment die Augen aufschlagen würde, wenn die Uhr auf der Kommode auf sieben sprang. In ihrer ganzen Ehe war er immer zur gleichen Zeit aufgewacht, egal wie spät er am Abend zuvor in die Federn gesunken war. Sie wusste, dass er sich auf der Bettkante räkeln, mit den Händen durchs schüttere Haar streichen und sich wie ein fauler Hund, den man weckt, ein wenig schütteln würde, bevor er ins Bad ging. Sie konnte die Sekunden zählen, bevor sie das Wasser in der Dusche und die Klospülung hörte.
Auch heute Morgen würde sich an alledem nichts ändern.
Nur dass alles anders war.
Mrs. Böser Wolf musterte jede Falte im Gesicht ihres schlafenden Mannes, zählte die dunkelbraunen Altersflecken und die grauen Haare in seinen buschigen Augenbrauen. In der Bestandsaufnahme ihres Ehemannes schien alles so vertraut wie das blasse Licht der aufgehenden Sonne.
Sie merkte, dass ein Widerstreit der Gefühle in ihr brodelte.
Du kennst diesen Mann besser als irgendjemand anderen außer dir selbst … aber wer ist er wirklich?
Sie hatte nur ein paar Stunden geschlafen und fühlte sich, nachdem sie sich bis in die frühen Morgenstunden hin und her gewälzt hatte, wie gerädert. Als sie endlich eingeschlafen war, hatten sie schreckliche Alpträume wie in ihrer Kindheit heimgesucht.
Seit ihren Herzproblemen und den Ängsten, die sie in jener Zeit nachts quälten, hatte sie so etwas nicht mehr erlebt. Ein Teil von ihr hatte nur den Wunsch, Ruhe zu finden und alles zu vergessen, während der andere sie mit Fragen quälte, die sie nicht laut zu stellen wagte.
Nachdem sie am Vorabend in den Arbeitsbereich ihres Mannes eingedrungen war, hatte sie sich mit leerem Blick eine Lieblingssendung nach der anderen angesehen, ohne dass es sie auch nur im mindesten beruhigen konnte. Schließlich hatte sie den Fernseher abgeschaltet, sämtliche Lichter ausgeknipst und im Stockdunkeln auf ihrem gewohnten Platz gesessen, bis die Scheinwerfer ihres Wagens über die weißen Wände des Wohnzimmers huschten und sie wusste, dass der Böse Wolf in die Straße einbog, in der sie wohnten. Im selben Moment war sie aufgesprungen und hastig nach oben geeilt, um sich schlafen zu legen. Normalerweise wäre sie aufgeblieben, um ihn nach dem Forensikvortrag zu fragen. Nicht an diesem Abend. Als er leise ins Schlafzimmer schlich und sich neben sie ins Bett legte, hatte sie sich schlafend gestellt. Bei dem Gedanken, dass sich gerade ein Fremder neben sie legte, hatte sie gefröstelt. Vor einer halben Ewigkeit hätte er ihr vielleicht den Arm oder die Brust gestreichelt, um sie aus Verlangen zu wecken, doch das war Vergangenheit.
Was hast du in seinem Arbeitszimmer gesehen?
Diese Frage hallte seit Stunden in ihr nach. Im Dunkeln der Nacht hatte sie laut gedröhnt und war erst ein wenig abgeklungen, als durchs Fenster der Morgen einsickerte.
Ich weiß es nicht.
Ist das gelogen? Vielleicht weiß ich es ja doch.
Einfache, harmlose Antworten lagen mit düsteren, entsetzlichen Erklärungen im Widerstreit. Sie fühlte sich, als stünde sie in einem fremden Land auf einem unbekannten Platz und suche verzweifelt nach einer Wegbeschreibung. Die Schrift auf den Straßenschildern konnte sie nicht lesen, die Sprache der Passanten verstand sie nicht.
»Hey, guten Morgen!«
Der Böse Wolf wachte auf.
Sie fürchtete, dass ihre Stimme zittern würde, doch zu ihrer Erleichterung klang sie ganz normal. Frag ihn das Naheliegende, befahl sie sich.
»Wie war der Vortrag? Ich wollte auf dich warten, aber ich
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