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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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sie am Leben blieb.
    Als ihr diese Gefühle zu Bewusstsein kamen, machte sie sich klar, dass sie sich fast schon geschlagen gab. »Mag ja sein«, murmelte sie, »vielleicht aber auch nicht.«
    Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie schon unterwegs war. Die Straßenzüge schienen sich meilenweit vor ihr auszubreiten, sie wanderte von einem Viertel ins nächste. Mal ging sie nach rechts, mal nach links. Schließlich humpelte sie mit Blasen an den Füßen heim. Als sie endlich vor ihrer Haustür stand, keuchte sie vor Erschöpfung, worin sie ein gutes Zeichen sah. Ein wenig taten ihr die Knie weh, und zum ersten Mal war ihr kalt.
    Sie ging nicht sofort ins Haus, sondern stand, den Schlüssel in der Hand, eine Weile unter der Eingangslampe. Vielleicht ist er eingebrochen, während ich unterwegs war, dachte sie, genau wie der Wolf bei Rotkäppchens Großmutter, und jetzt sitzt er gemütlich da drinnen und wartet.
    Sie zuckte die Achseln. Irgendwie hatte sie das Gefühl, alle Angst erschöpft zu haben, so wie man irgendwann nicht mehr weinen kann, egal wie traurig man ist.
    Gerade als sie den Schlüssel in die Haustür steckte, hörte sie drinnen das Telefon klingeln.
     
    Karen war lange nach der Sprechstunde in der Praxis geblieben. Sie hatte registriert, wie ihre Assistentin und dann ihre Sprechstundenhilfe nach Hause gegangen waren und wie der Hausmeister der Spätschicht hereingeschaut und die Abfälle mitgenommen hatte.
    Im Warteraum surrten ein paar Lampen. Eine einsame Tischlampe warf Schatten an die Wände ihres Arbeitszimmers.
    Während ihr zusammenhangslose Gedanken durch den Kopf jagten, saß sie an ihrem Schreibtisch und versuchte, der Situation irgendeine Logik abzugewinnen, wenn auch – wie die anderen beiden Roten – vergeblich.
    Die ständige Angst war eine Tatsache, Punkt. Aber wie viel Angst war vertretbar? Sie hätte gerne eine Art Skala dafür zur Verfügung gehabt, wie jene Schmerzskala, die in ihrem Sprechzimmer an der Wand hing. Im Moment, schätzte sie, bin ich bei acht. Im Comedyclub war ich bei neun. Wie fühlt sich wohl zehn an? Die Antwort ersparte sie sich.
    Stattdessen wiederholte sie mit leiser, heiserer Stimme, die nach einer aufkommenden Erkältung klang, in Wahrheit aber von der Anspannung kam, in einer Art Singsang: »Rote Eins, Rote Eins, Rote Eins.«
    Sie blickte zur Decke und registrierte, dass ihr Mantra sie plötzlich unheilvoll an »Der weiße Engel, der weiße Engel, der weiße Engel« in John Schlesingers
Marathon-Mann
erinnerte. Also versuchte sie, beides zusammen zu wiederholen: »Weißer Engel, Rote Eins …«
    An der Decke stand kein Weisheitsspruch mit der Lösung zu ihrem Problem.
    Karen gab sich einen Ruck, wollte ihre geschwächten Muskeln und verkrampften Sehnen anspannen, um aufzustehen und nach Hause zu fahren, als auf ihrem Schreibtisch das Telefon klingelte.
    Zunächst wollte sie es ignorieren. Der Patient, der jetzt noch mit einem Anliegen kam, würde vom Anrufbeantworter hören, dass er bei einem lebensbedrohlichen Problem den Notruf wählen oder sich andernfalls zu den regulären Praxiszeiten noch einmal melden sollte.
    Egal, schließlich bist du noch da, sagte sie sich. Es ist deine Pflicht. Jemand ist krank. Geh gefälligst ran und biete deine Hilfe an. Sie griff nach dem Hörer und meldete sich: »Internistische Praxis, Doktor Jayson am Apparat.«
    Am anderen Ende ertönte nur Schweigen.
     
    Stille kann weitaus schlimmer sein als ein Schrei.
    Rote Eins erstarrte an ihrem Schreibtisch.
    Rote Zwei verlor beinahe das Gleichgewicht und musste sich an der Wand festhalten, um nicht hinzufallen.
    Rote Drei stand reglos in der Dunkelheit.
    In den ersten Sekunden hörte jede von ihnen nur leises Atmen. Sie alle konnten nur mühsam den Drang beherrschen, aufzulegen oder das Telefon an der Wand zu zertrümmern oder die Schnur herauszureißen oder das Handy in die Nacht zu schleudern. Sie taten nichts dergleichen, auch wenn Rote Drei schon den Arm anwinkelte und zum Wurf ausholte, bevor sie das Handy langsam wieder ans Ohr hielt.
    Jede Rote wartete darauf, dass der Anrufer etwas sagte oder die Verbindung trennte. Die Zeit, die verstrich, war unerträglich, gnadenlos.
    Jede rechnete mit etwas, das sie in vollkommene Panik versetzen würde, zum Beispiel einer geisterhaften, kalten Stimme, die sagte, »Bald«, oder »Ich krieg dich«, oder auch nur einem diabolischen Lachen wie aus einem schlechten Hollywoodfilm.
    Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen

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