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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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hatte.
    Bis zu diesem Abend war ich ganz und gar allein.
    Nach dem Vortrag in der Bibliothek hatte sie sich an mehreren anderen Frauen vorbeigedrängelt, die versuchten, mit dem Bösen Wolf zu sprechen.
    Sie wusste noch, wie er darüber geschmunzelt hatte und es ihr ein wenig peinlich gewesen war; in der Öffentlichkeit benahm sie sich selten so forsch.
    »Und? Sie mögen Geschichten über Mord und Totschlag?«, hatte er sie gefragt, während er lauwarmen Kaffee getrunken und an altbackenen Schokoladenkeksen gekaut hatte.
    »Ich mag Mordgeschichten«, hatte sie geantwortet, »für mein Leben gern.«
    Und dann staunte sie selbst über die Worte, die sie hinzufügte: »Besonders Ihre.«
    Zuerst hatte er gelächelt, dann gelacht und sich mit einem Kotau bedankt. Dann hatte er die Unterhaltung auf Pulp-Autoren wie Jim Thompson gelenkt und ihn mit der jüngeren Garde von Verfassern wie Patricia Cornwell oder Linda Fairstein verglichen, die besonderes Gewicht auf detailgenaue Schilderungen legten. Über ihrer gemeinsamen Vorliebe für den Roman noir waren sie sich nähergekommen.
Der Mörder in mir,
da waren sie sich einig, bot weitaus bessere Unterhaltung als alles, was derzeit auf dem Markt war.
    Mrs. Böser Wolf riss die Augen auf und setzte sich senkrecht auf. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wer von ihnen beiden den Titel zuerst genannt hatte.
    Auf einmal schien das wichtig – viel wichtiger als das Grillenzirpen, doch ihr fiel nicht auf Anhieb ein, wer was zu dem Gespräch beigetragen hatte. Das war erstaunlich. Bis jetzt hatte sie gedacht, der gesamte erste Wortwechsel hätte sich ihr für immer ins Gedächtnis eingeprägt, und sie fragte sich, ob sie vierundzwanzig Stunden zuvor nicht Wort für Wort und Satz für Satz alles, was sie an jenem Abend zueinander gesagt hatten, wie einen berühmten Shakespeare-Monolog hätte rezitieren können.
    Sie hielt einen Bleistift in der Hand und brach ihn entzwei. Einen Moment lang betrachtete sie die zersplitterten Enden. Dann machte sie sich wieder an ihre Arbeit, so unendlich deprimierend sie auch war.
     
    Nichts, dachte der Böse Wolf, fördert die Konzentration so sehr wie der Tod.
    Ihm war bewusst, dass dies in gleichem Maße für den fünfundneunzigjährigen Rentner galt, der seinen Lebensabend im Altenheim beschloss, wie für die Krankenschwestern, die in der pädiatrischen Intensivstation über winzigen Frühchen wachten. Oder auch für den Teenager, der zu viel gebechert hatte und in jenem Bruchteil einer Sekunde nüchtern wurde, in dem er auf der nassen Fahrbahn die Kontrolle über den Wagen seines Vaters verlor und den dicken Baumstamm sah, auf den er unaufhaltsam zuraste. Dasselbe traf auf den Soldaten zu, der sich an eine staubige Mauer duckte, während ihm die Salven aus Maschinengewehren um die Ohren sausten.
    Ganz ähnlich, stellte er sich vor, gerieten Rote Eins, Rote Zwei und Rote Drei in diesen hellwachen Geisteszustand. Er schrieb:
    Es besteht eine seltsame Symbiose zwischen dem Mörder und seinem Opfer. Wir werden derselben Prüfung unterzogen, mit denselben Antworten auf dieselben Fragen konfrontiert. Der einzige Unterschied besteht darin, dass sich einer von uns als stärker erweist. Und der andere auf der Strecke bleibt.
    In vielen primitiven Kulturen glaubten die Krieger, dass sich die Kraft und die Fähigkeiten des besiegten Feindes auf sie übertrugen. Dazu verzehrte man beispielsweise dessen Herz oder schlug dem armen Tropf – wie David dem ungelenken Goliath – das Haupt ab.
    Unser Militär ist heute zu »aufgeklärt«, um an solche Mythen zu glauben. Jammerschade. Was damals richtig war, stimmt auch heute noch.
    Der moderne Mörder ähnelt dem Krieger von damals. Jeder Erfolg macht ihn stärker. Er muss deshalb nicht gleich das Hirn oder das Herz verzehren oder sich aus den Genitalien des besiegten Opfers ein Sandwich machen. Die Wirkung erzielt er auch ohne ein deftiges Essen.
    Der Böse Wolf stand von seinem Schreibtisch auf und hieb wie ein Schattenboxer mit den geballten Fäusten in die Luft. Er zog den Stapel mit den Ausdrucken aus der Ablage und fächelte ihn durch die Luft, als könnte er so die Zahl der Seiten zählen. Er war davon überzeugt, dass die letzten Kapitel, in denen er genau beschrieb, wie er jede Rote terrorisierte, die Leser fesseln würden. Er wusste instinktiv, dass die Faszination, die er empfand, auf die Leser überspringen würde. Der Leser würde dieselbe Obsession für sein Werk entwickeln, die er selbst

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