Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
sie sich auch bemühte, die Wahrheit herauszufinden, letztlich im Trüben fischte. Hier und da erkannte sie Überschneidungen zwischen einem der Bücher und einem der Verbrechen, zugleich aber mindestens ebenso viele Abweichungen. Das Verhalten eines Mörders in einem der Romane, der seine Opfer erstach, ähnelte so sehr den Presseberichten zu den wahren Delikten, dass es unheimlich war. Eine junge Prostituierte, die im Roman in einer Seitenstraße aufgefunden wurde, erinnerte an eine, die in einer realen Kleinstadt am Straßenrand lag.
    Mrs. Böser Wolf wurde immer klarer, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte. Alles, was sie aufdeckte, mochte übereinstimmen oder auch nicht. Sie schärfte sich ein, genau zu sein, sich an die Fakten zu halten und analytisch vorzugehen.
    Bei zwei Morden, die sie sich näher angesehen hatte, war jeweils ein Mann des Verbrechens überführt und zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Bei zwei anderen hatte die Polizei die Morde als ungelöste Fälle zu den Akten gelegt, die, soweit sie aus dem Reality- TV wusste, in gewissen Abständen von einem Ermittler wieder hervorgekramt wurden. Tauchte wie durch ein Wunder irgendein neuer Beweis auf, führte er vielleicht zu einer sensationellen Verhaftung. Sie war klug genug, um zu begreifen, dass solche seltenen Ausnahmen für einen Hollywooderfolg herhalten mochten, jedoch nur über die Vielzahl der ungelösten Mordfälle in der realen Statistik hinwegtäuschen konnten.
    Mrs. Böser Wolf war ratlos.
    Bei der Erkenntnis, dass zwei der von ihrem Mann ausgewählten Morde zur Verurteilung anderer Männer geführt hatten, war sie so erleichtert gewesen, dass sich ihr Puls wieder normalisierte und sie sich leise zuflüsterte: »Siehst du? Hab ich’s dir nicht gesagt? Kein Grund zur Panik. Keine große Sache.« Dass andererseits zwei der Morde bis zu diesem Tage unaufgeklärt waren, machte ihr zu schaffen. Hinzu kam, dass einer der verurteilten Männer im Gefängnis einem Reporter ein ausführliches Interview gegeben und darin überzeugend seine Unschuld beteuert hatte. Die Anklage gegen ihn, so versicherte er, habe sich ausschließlich auf Indizien gestützt. Der andere ließ sich, einem kürzeren Artikel in einem kleinen Blatt zufolge, vom New Yorker
Innocence Project
vertreten, das sich darum bemühte, mit Hilfe von neu gewonnenen DNA -Beweisen juristische Fehlurteile zu kippen.
    Sie hasste das Wort »Indiz«. Vielleicht gaben sich die Beteiligten im Gerichtssaal damit zufrieden, doch für sie warf es mehr Fragen auf, als es beantwortete. Und ihr machte der Gedanke Angst, dass kaum jemand besser darin war, irreführende »Indizien« zu erfinden, als ihr Mann.
Schließlich gehört das zum Handwerkszeug eines Krimiautors.
    Aber das tut er doch nur, hielt eine Stimme in ihrem Kopf dagegen, weil seine Bücher ausgeklügelt sind und die Handlung real wirken soll. Nicht mehr und nicht weniger – keine anderweitigen Motive.
    Mrs. Böser Wolf klammerte sich an die Kante der Schreibtischplatte, als täte sich unter ihr der Boden auf. Sie starrte auf den Zeitungsartikel über einen besonders blutrünstigen Mord, der sich mit Messern, Verstümmelungen und jeder Menge Blut über ihren Bildschirm ausbreitete.
    Ohne sich darum zu scheren, ob sie jemand hören konnte, platzte sie heraus: »Woher sonst soll er denn bitte schön die nötigen Details für seine Bücher bekommen?« Die Frage schien ihr völlig berechtigt, und sie sackte auf ihrem Stuhl zurück. Ohne besonderen Grund tippte sie einen weiteren Eintrag in ihre Tabelle:
    Den Tag, an dem sie ihren künftigen Mann kennenlernte.
    Sie wippte ein wenig auf ihrem Sessel und summte einzelne Melodien aus den
Top
40
 Love Songs
der Achtziger, während ihr die grausigen Details der vier echten Morde vor Augen standen. Ihr leiser Gesang widersetzte sich den schrillen Bildern von Leichen, die in blutgetränkten Kleidern an einsamen Orten versteckt worden waren.
    Sie sah verkrustetes blondes Haar und roch verwesendes Fleisch. Sie schloss die Augen, doch statt sich weiter mit Zwangsvorstellungen von Mord und Totschlag zu quälen, kam ihr in den Sinn, wie sie an einem Abend im Frühsommer die Treppe zur örtlichen Bücherei hinaufgegangen war und zum ersten Mal in jenem Jahr aus der Ferne Grillengezirpe herüberdrang. Sie konnte nicht sagen, wieso sie sich an dieses Detail erinnerte, doch in ihrem Kopf war es mit dem Moment verschmolzen, in dem sie sich an einen der vorderen Tische gesetzt

Weitere Kostenlose Bücher