Der Wolf aus den Highlands
so mancher zu glauben, die offensichtliche Unmoral der Mutter sei an die Tochter weitervererbt worden. Bei Rolfs Verlangen spürte sie nichts von all diesen Vorbehalten, aber sie musste ihn trotzdem abweisen, was sie sehr betrübte.
»Wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn du dich von mir fernhalten würdest«, sagte sie und hoffte, dass sich ihr Bedauern, ihn abweisen zu müssen, nicht zu offen in ihrer Stimme oder in ihrem Blick zeigte.
James streichelte ihr zärtlich die Wange und freute sich, dass sie nicht zurückschreckte. Er wusste, dass viele Leute Französisch für die perfekte Sprache für Liebende hielten, aber er wurde es allmählich leid, in dieser Sprache reden zu müssen. Er wollte sich mit Annora in seiner Muttersprache unterhalten und hoffte nur, dass er es bald könnte.
»Du möchtest nicht, dass ich in deiner Nähe bin?«, fragte er.
Annora seufzte. »Was ich möchte, ist nicht wichtig, oder?«
»Für mich schon.«
Sie lächelte matt. »Tja nun, das ist sehr schön, aber wir haben nicht die Freiheit zu tun, was wir wollen.«
»Ich bin kein MacKay.«
»Aber ich, und du bist ein Mann, der von MacKay eingestellt worden ist.«
»Aber glaubst du denn, du seist zu hochstehend, um einen Holzschnitzer zu küssen?«
»Sei kein Narr. Aber trotzdem halte ich es für das Beste, wenn du deine Arbeit tust und dann diesen Ort verlässt, und zwar heil und lebendig. Donnell hat wohl seine Gründe, warum er nicht will, dass du – dass du um mich wirbst. Und Donnell mag es nicht, wenn er seinen Willen nicht bekommt. Es sind schon Männer deswegen gestorben, und zwar unter großen Schmerzen.«
»Ah, du machst dir Sorgen um meine Sicherheit.« Er küsste sie noch einmal. »Das ist schön.«
Beinahe hätte Annora gelacht, aber die Gefahr, in der sie beide möglicherweise schwebten, erstickte ihren Anflug von Humor.
»Sei auf der Hut, Rolf. Donnell ist zwar manchmal ein Narr, doch er kann auch sehr brutal sein. Aber jetzt muss ich zum Abendessen in die Große Halle.«
Er hielt sie nicht mehr auf. Im Moment konnte er nichts weiter tun, als ein paar Küsse und Zärtlichkeiten zu stehlen. Es war töricht von ihm, sich zu quälen und immer wieder nach etwas zu greifen, was er noch nicht haben konnte. Es bescherte ihm nur eine Sehnsucht, die ihn die ganze Nacht peinigen würde, und das kalte Bad, das er sich nun genehmigen wollte, würde wohl nicht viel helfen.
Obwohl Annora sehr spät in die Große Halle kam, wurde sie von den Anwesenden kaum beachtet. Sie setzte sich und lächelte flüchtig dem Jungen zu, der sich beeilte, Essen auf ihre Platte zu häufen und ihren Humpen mit Ale zu füllen. Egan warf nur einen einzigen hitzigen Blick auf sie, dann nahm er sein Gespräch mit Donnell wieder auf.
Meistens war es ihr ganz recht, wenn kaum einer von Donnells Männern Notiz von ihr nahm, aber diesmal schmerzte es. Annora wusste, dass es am besten war, wenn sie für alle mehr oder weniger unsichtbar blieb, und dass sie so am besten vermeiden konnte, die Zielscheibe von Donnells Zorn zu werden. Aber an diesem Abend ärgerte sie sich darüber. Sie mochte ein Bastard sein, aber immerhin kümmerte sie sich um das Kind des Lairds. Das war eine wichtige Aufgabe, und dennoch war sie für viele von Donnells Leuten kaum mehr als ein Geist. Einerseits war ihr das ganz recht, andererseits hätte es ihr nicht so leicht gemacht werden sollen.
Doch dann mahnte sie sich, nicht so töricht zu sein und sich nicht von ihrem Stolz lenken zu lassen, und konzentrierte sich aufs Essen. Donnell und Egan redeten leise miteinander. Gelegentlich warfen sie einen Blick auf Annora, aber sie bemühte sich, die beiden einfach zu ignorieren. Es war ein Segen, dass Egan nicht direkt neben ihr saß. Wenn sie nur gewusst hätte, was die beiden mit ihr vorhatten! Zu gern hätte sie mitbekommen, worüber die Männer sich so eingehend unterhielten, aber sie wollte jetzt wahrhaftig nicht beim Lauschen ertappt werden.
Sehr zu ihrem Verdruss standen Egan und Donnell plötzlich auf und verließen den Raum. Bestimmt wollten sie weiterreden, aber offenbar an einem Ort, an dem sie das Gefühl hatten, es ungestört tun zu können – wahrscheinlich in Donnells Arbeitszimmer. Wenn sie ihr Essen hinunterschlang und ebenfalls ging, würde das wahrscheinlich auffallen und Donnell gemeldet werden. Das konnte sie nicht riskieren. Obwohl der Wunsch in ihr brannte herauszufinden, worüber die beiden redeten, aß sie ruhig weiter. Als sie sich endlich sicher
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