Der Wolf
elektrophoretische Analyse bestimmter DNA-Moleküle im Blut der vier gefangenen Wölfe zeigen jedenfalls eine völlige Übereinstimmung, was für eine
gemeinsame Abstammung spricht. Über die Jahre seit der
Kolonisation könnten somit bis zu 50 Prozent der ursprünglichen genetischen Variabilität verlorengegangen sein. Das ist
ein Wert, bei dem man bei anderen Arten bereits eine eingeschränkte Fähigkeit zur Reproduktion festgestellt hat.
Ob Seuche, ob Degeneration, ob beides – das weitere Schicksal der Wölfe auf Isle Royale wird uns wesentliche Erkenntnisse über die langfristige Lebensfähigkeit kleiner Tierpopulationen vermitteln. Bei der zunehmenden Isoliertheit
zahlreicher Populationen überall auf der Erde, nicht zuletzt
in Europa mit seiner ohnehin kleinräumigen Landschaftsstruktur, ist diese Frage von größter Bedeutung. Sie wird
über das Überleben oder das Aussterben vieler Arten entscheiden. Namentlich nordamerikanische Populationsgenetiker warnen anhand theoretischer Berechnungen vor dem
Verlust der genetischen Vielfalt in zu kleinen Artbeständen.
In bezug auf den Wolf etwa nennen sie eine Anzahl von
mindestens zweihundert Tieren, die notwendig sei, damit
eine Population langfristig überleben könne. Gegen solche Überlegungen setzen vor allem wir in Europa unsere
reiche praktische Erfahrung mit isolierten Tierpopulationen, die häufig sehr viel kleiner sind als die für eine stabile Situation berechnete Mindestzahl und trotzdem bislang überlebt, ja manchmal sogar sich vermehrt und sich
erneut ausgebreitet haben. So haben wir nicht selten hinsichtlich der Ausrottungsgefahr aufgrund genetischer Degeneration abgewiegelt oder sie zumindest nicht ernst genommen. Doch das Aussterben vieler Arten findet im verborgenen statt. Oft registrieren wir es nicht einmal, und falls
doch, haben wir kaum je genetische Faktoren als Ursache
für das lokale Verschwinden einer Tierpopulation in Betracht gezogen, geschweige denn Daten hierzu erhoben.
Meistens haben wir Veränderungen des Lebensraumes als
Hauptursache für das erneute Verschwinden einer kleinen
Population hervorgehoben oder allenfalls an zufällige äußere Gegebenheiten wie Wettereinflüsse, den Tod eines
besonders wichtigen Tieres oder eben auch eine Seuche
gedacht. Die hohe genetische Vielfalt auch innerhalb kleiner Populationen und deren entsprechende Anpassungsfähigkeit standen für uns zumeist außer Frage.
Das Geschehen auf Isle Royale, wo mit größter Sorgfalt
und in einer bislang unerreichten Langfristigkeit ein isoliertes Ökosystem beobachtet wird, könnte nun ergeben, daß
wir zu einfach gedacht haben und daß es um die langfristigen Überlebenschancen kleiner Tierpopulationen schlechter bestellt ist, als es ohnehin erscheint. Genetische Veränderungen in Tierpopulationen erfolgen sehr langsam ; dafür
sind die Folgen womöglich um so drastischer. So hängt viel
davon ab, ob die Wölfe auf Isle Royale überleben werden
oder nicht, zumindest hinsichtlich unserer theoretischen
Kenntnisse von der Bedrohung kleiner Tierpopulationen.
Zu praktischen Konsequenzen indessen wird wohl auch
dieses Wissen kaum führen, so, wie die Dinge im Naturund Artenschutz heute stehen.
Doch unabhängig vom weiteren Schicksal der Wölfe vermitteln uns die Beobachtungen auf Isle Royale eine sichere
Erkenntnis : wie wichtig es ist, auch von Menschen weitgehend ungestörte Lebensgemeinschaften genau zu studieren ; denn nur so können wir den Einfluß des Menschen
auch auf die Kulturlandschaft richtig ermessen. Hinsichtlich der Räuber-Beute-Beziehung in einer relativ artenarmen Waldregion lassen sich aufgrund der bisherigen Ergebnisse der Forschungsarbeit auf Isle Royale folgende allgemeine Aussagen machen :
– Das Nahrungsangebot, nicht der Räuber bestimmt langfristig die Anzahl der großen Pflanzenfresser, also den Bestand
der Beutepopulation.
– Ohne Räuber schwankt jedoch die Beutepopulation periodisch mit hohen Ausschlägen.
– Wenn Räuber wie der Wolf dort jagen, sind die Populationsschwankungen bei den Beutetieren deutlich abgeflacht; bei zunehmender Überpopulation kommt es früher zu einer Reduktion und als Folge davon auch nicht
mehr zu einem drastischen Zusammenbruch der Bestände.
Die Wölfe haben bei mittleren und hohen Beständen ihrer
Beutetiere demnach einen regulierenden Einfluß auf deren
Populationsentwicklung.
– Bei niedriger Beutepopulation hingegen, aus welchen
Gründen diese auch immer gegeben ist, können die Wölfe
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