Der Wolf
jetzt die Hälfte der Insel
für sich in Anspruch. Vermutlich wanderten im Zuge dieser Spannungen ganze Gruppen jüngerer Wölfe im Winter
über den erneut zugefrorenen See von der Insel ab.
Es folgten zu Beginn der siebziger Jahre weitere kalte Winter mit hohen Schneelagen. Nun drehte sich das Verhältnis
zwischen Wolf und Elch dramatisch um. Die zurückgebliebenen Wölfe hatten es zunehmend einfacher, Elche zu erlegen, denn da die von den Elchen bevorzugten Weichlaubhölzer weitgehend vernichtet waren, fehlte es den Tieren an
Nahrung. Derart geschwächt, gelang es den Elchen im tiefen
Schnee zusehends seltener, sich gegen die Wölfe zu wehren ;
immer häufiger wurden jetzt auch Tiere mittleren Alters
deren Opfer. Die Wölfe waren so erfolgreich, daß sie sogar
viele Elchkadaver ungefressen liegen ließen. Hinzu kam,
daß eine in diesen Jahren besonders hohe Biberpopulation
den Wölfen auch im Sommer ausreichend Beute sicherte. So
stieg ihre Anzahl, nun trotz abnehmender Elchpopulation,
immer weiter. Im Spätwinter 1980 zählten Rolf Peterson und
seine Mitarbeiter fünfzig Wölfe, aber nur noch sechshundertfünfzig Elche. Fünf territoriale Wolfsrudel teilten sich
jetzt die Insel. Die Vegetation erholte sich erkennbar ; der
hohe Wolfbestand schien jedoch zu verhindern, daß auch
die Elche langsam wieder zahlreicher wurden.
Doch nicht lange. Die zunehmend üppige Vegetation
ließ die Elche wieder kräftiger werden, und erneut milde
Winter schmälerten das Jagdglück der Wölfe. Abermals
kehrte sich das Räuber-Beute-Verhältnis um: Bei steigendem Elchbestand nahm die Anzahl der Wölfe von Jahr zu
Jahr ab. Binnen zweier Jahre starben auf Isle Royale mindestens dreiundfünfzig Wölfe. Viele verhungerten, andere
kamen bei den jetzt immer häufigeren Kämpfen zwischen
den Rudeln oder auch bei Auseinandersetzungen in den
Rudeln um. So lebten im Winter 1982 nur noch neunzehn
Wölfe auf der Insel. Ein Jahr danach aber war das RäuberBeute-Verhältnis neuerlich bei dem scheinbar stabilen Wert
von 23 Wölfen zu 900 Elchen angelangt.
Diesmal indessen kam es anders als in den vorausgegangenen Jahren mit ähnlichen Verhältnissen. Die Anzahl der
Elche stieg fast ungebremst weiter und erreichte im Winter
1988 eine Rekordhöhe von nahezu zweitausend Tieren. Die
Anzahl der Wölfe hingegen sank weiter und erreichte im
selben Winter den bislang niedrigsten Stand seit Beginn
der Forschungsarbeiten : Elf Wölfe waren nur noch übriggeblieben ; auch im folgenden Winter sollte sich der Wolfbestand nicht erhöhen.
Bestandsschwankungen bei Elchen und Wölfen auf Isle
Royale (nach R. Peterson, persönliche Mitteilung 1989).
Was ist passiert? An Spekulationen mangelt es nicht.
Sicher ist nur, daß es an Nachwuchs fehlt. Die Wölfe auf
Isle Royale bekommen einfach keine Welpen mehr, oder
sie schaffen es nicht, Welpen aufzuziehen. Dabei ist das
Nahrungsangebot höher als je zuvor, und die auf der Insel
lebenden Altwölfe befinden sich in sehr guter Verfassung.
Viele Kadaver verendeter Elche stehen den Wölfen zur Verfügung; andere Elche sind zu geschwächt, um sich erfolgreich gegen auch nur wenige Angreifer zu verteidigen. So
wurde mehrmals beobachtet, daß ein einzelner Wolf sogar
einen ausgewachsenen Elch zur Strecke brachte – etwas,
was früher nie vorkam. An fehlender Nahrung jedenfalls
kann es nicht liegen, daß bei den Wölfen der Nachwuchs
ausbleibt. Zuerst dachte man daher an eine Seuche, die
vor allem Welpen trifft, zum Beispiel die Staupe. Es spricht
jedoch einiges gegen diese Hypothese. Wegen der dramatischen Situation bekam Rolf Peterson von der Nationalparkverwaltung erstmals die Genehmigung, Wölfe auf der Insel
zu fangen, um ihnen Blut abzunehmen und ihnen Senderhalsbänder umzulegen. Im Sommer 1989 gingen vier Wölfe
in die Falle ; zwei waren adulte Weibchen, die beide noch
keine Welpen geboren hatten. Die Wirkung des unbekannten Faktors dürfte daher einsetzen, bevor es überhaupt zu
einer Befruchtung kommt. Auch dies könnte auf krankheitsbedingte Ursachen zurückzuführen sein, doch fehlen
bisher Anhaltspunkte dafür.
Eine weitere Möglichkeit ist es, daß die genetische Variabilität durch die ständige Inzucht auf der Insel bis zur Degeneration der Tiere abgenommen hat. Es scheint, daß sich
unter den seinerzeit über das Eis zur Insel gelangten ersten
Wölfen nur ein reproduzierendes Weibchen befand. Auf diese
»Urwölfin« gingen dann alle heute auf der Insel lebenden
Wölfe zurück. Die
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