Der Wolf
wir im dichten Nebel bis nach Santa
Eufémia, einem kleinen Dorf an der Straße unterhalb des
Maiella-Massivs, hinabgestiegen waren, wurde uns klar, daß
wir uns weidlich getäuscht hatten. Große weiße abruzzische
Schäferhunde bellten uns an. Unsere Enttäuschung hielt
sich mit unserem Lachen die Waage. Viele der Hunde, die
aus dem Nebel auf uns zukamen, trugen schwere Halsbänder mit etwa fünf Zentimeter langen, nach außen gerichteten, dichtgestellten Stacheln aus Stahl. Das konnte nur
ein Schutz gegen Wölfe sein. Die von uns gesuchten Tiere
mußte es also doch geben.
Zu unserer Entschuldigung muß ich betonen, daß es
unmöglich ist, gleich große Spuren von Hund und Wolf
mit Sicherheit zu unterscheiden. Viele Hunde haben rundere Pfoten als Wölfe und lassen sich dadurch (oder an der
Größe) identifizieren. Es gibt aber auch Hunde, die Trittsiegel wie ein Wolf hinterlassen.
An den folgenden beiden Tagen schneite es ununterbrochen. Der Schneesturm fegte um das Hotel. An eine weitere
Suche war nicht zu denken. Unsere Helfer waren inzwischen
alle eingetroffen, und gemeinsam saßen wir in dem sonst
völlig leeren Hotel und warteten auf Wetterbesserung.
Eines Morgens – endlich – war der Himmel strahlend
blau. Luigi hatte recht : Die Landschaft war wirklich wunderschön. Wir befanden uns am Rande eines weiten Hochplateaus zwischen dem Maiella-Massiv im Osten und dem
Monte Morone im Westen. Das Plateau war weitgehend
unbewaldet; nur an den Hängen, etwa bis 1800 Meter Höhe,
erstreckte sich dichter Buchenwald. An den sonnenexponierten steilen Stellen darüber gingen schon jetzt, früh am
Morgen, die ersten Lawinen donnernd ab. Es waren am Hotel
etwa sechzig Zentimeter Neuschnee gefallen. Den ganzen
Tag über begleitete uns das Krachen der Lawinen.
Schon am Vortag hatten wir einen genauen Plan aufgestellt. Jeder hatte in einem bestimmten Gebiet zu suchen,
entweder auf Skiern oder auf Schneeschuhen. Die wenigen, welche die Strapazen im tiefen Schnee scheuten, sollten mit dem Auto die Straße entlangfahren und Spuren
suchen. Noch aber war an Fahren nicht zu denken ; der
Schneepflug mußte erst abgewartet werden. Dieser kam
auch – eine ungeheure Maschine; auf viel Schnee war man
hier offensichtlich vorbereitet –, als wir gerade abziehen
wollten. Die Straßenarbeiter erzählten, daß weiter unten,
in Richtung Pacentro, eine Wolfsspur die Straße kreuze.
Dies war mein Gebiet. Auf Skiern gewann ich in dem tiefen Schnee oberhalb des Hotels nur schwer an Höhe. Dann
fuhr ich, auf derselben Höhe bleibend, die südlichen Ausläufer des Monte Morone entlang. Und tatsächlich – bald
hatte ich eine Spur. Wie anders sie doch verlief als die der
Hunde einige Tage zuvor ! Zielstrebig, ohne viele Umwege
und unnötige Bewegungen im tiefen Schnee, waren zwei
Tiere hintereinander den Hang entlanggelaufen, jede vom
Wind schneefrei gewehte Stelle nutzend. Zwei Urinstellen
inmitten der Spur, zu denen der Urin also offensichtlich
durch einfaches Hinhocken abgegeben worden war, zeigten,
daß es sich vermutlich um zwei junge Tiere handelte.
Bald kamen weitere Spuren hinzu. Es schien, daß ein
ganzes Rudel vom Monte Morone früh am Morgen (nachts
hatte es noch geschneit) heruntergekommen war. Die einzelnen Tiere waren abwechselnd in verschiedenen Kombinationen miteinander gelaufen, stets aber über den Berg verteilt und nie alle zusammen in einer Linie. Erst am Grund
einer steilen Senke oberhalb der Müllgrube von Pacentro
hatten sie sich alle getroffen. Den Urinmarkierungen nach
zu schließen, mußte mindestens ein erwachsenes Tier dabeigewesen sein.
Ich folgte der Spur den ganzen Tag. In dem tiefen Schnee
und dem steilen Gelände war das ein recht beschwerliches
Unternehmen – aber auch schön. Es schienen sechs Wölfe
gewesen zu sein. Voller Entdeckerfreude kehrte ich abends
zum Hotel zurück. Niemand hatte eine Spur entdeckt. Einige
waren wieder draußen und suchten weiter. Den Zurückgekehrten wollte ich aber meine Entdeckung zeigen. Mit
dem Auto fuhren wir bis an den oberen Rand der Senke,
in der die Wölfe am Morgen verschwunden waren. Plötzlich hörte ich von unten ein Geräusch, wie wenn ein Wolf
zu heulen beginnen wollte. Sofort fing ich selber an zu heulen, und innerhalb von Sekunden bekam ich aus der Senke
vielstimmige Antwort. Von unserer Position aus konnten
wir in dem spärlichen Dämmerlicht sechs Wölfe ausmachen, die nach dem Heulen intensiv und lange miteinander spielten.
Meine Begleiter waren
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