Der Wolf
solcherart bedingte Einflüsse zu genetischen Veränderungen in den Populationen
führen können, die unumkehrbar sind. Wollen wir unsere
noch verbliebenen Wildtiere wild erhalten, müssen wir also
schnellstens umlernen und vor allem den menschlichen
Einfluß auf die Lebensgemeinschaften erheblich reduzieren, müssen wir in der Landschaft spinnennetzartig ökologische Lebens- und Ausbreitungsräume wieder einrichten, müssen wir alle künstlichen Einflüsse durch Winterfütterung, Tiermedizin und Trophäenkult abbauen sowie
möglichst viele der natürlichen Auslesebedingungen neu
entstehen lassen. Da auch der ökologisch einsichtigste Jäger
nicht imstande ist, die testhetzende Jagdweise der Beutegreifer zu simulieren, bedarf es dazu auch der Wiedereinbürgerung der natürlichen Feinde von Hirsch und Reh,
Gemse und Steinbock. Zu ihnen zählt an überragender
Stelle der Wolf.
Elftes Kapitel
Wölfe in den Abruzzen
Der Gedanke, daß Luchse, Bären, ja womöglich sogar Wölfe wieder verbreitet auf unserem dichtbesiedelten Kontinent leben sollen, dürfte viele Menschen schrecken. War
die Ausrottung dieser »Raubtiere« nicht geradezu eine Kulturtat, nach all dem, was im Laufe der Zeit passiert war ?
Würde nicht eine Wiederkehr dieser in unserer Kulturlandschaft anachronistisch gewordenen Wildtiere uns in die
finsteren Zeiten des Kampfes zwischen Mensch und Tier
zurückschleudern, gar den jetzt so dringend ersehnten
Ausgleich zwischen Natur und Kultur vereiteln, weil es
dadurch erneut zu einer Polarisierung zwischen den verschiedenen Nutzungsansprüchen an die Landschaft käme,
bei welcher der Mensch alle seine Fähigkeiten zur Zerstörung, ja seine geradezu satanische Lust daran wieder voll
entfalten würde ?
Nun, so erstaunlich es erscheinen mag, es gibt in Europa
viele Gebiete, in denen die großen Beutegreifer noch in
unmittelbarer Nachbarschaft zu Menschen leben. Die Abruzzen, unweit östlich Roms in den italienischen Apenninen,
sind ein solches Gebiet. Hier leben noch Bären und Wölfe.
Von den Lebensbedingungen hauptsächlich der letzteren
und von der Einstellung der Menschen zu ihnen will ich
in diesem Kapitel berichten.
Das Projekt
Im Jahr 1972 stellte die italienische Sektion des World
Wildlife Fund for Nature (WWF) eine Liste der in Italien bedrohten Tierarten auf. In die Gruppe der besonders gefährdeten Arten kam der Wolf. Er war ohne gesetzlichen Schutz, konnte von jedermann zu jeder Zeit und
überall geschossen, vergiftet oder in Fallen gefangen werden. Der WWF leitete eine Kampagne ein, und die italienische Regierung reagierte erstaunlich schnell, indem sie den
Wolf für zunächst zwei Jahre unter ganzjährigen Schutz
stellte. Doch Genaueres wußte man nicht : weder, wo die
Wölfe lebten, noch, geschweige denn, wie viele es gab.
Deshalb wurde gleichzeitig vereinbart, daß der WWF
ein Forschungsprojekt in Angriff nehmen sollte, dessen
erstes Ziel es war, die Verbreitung und die ungefähre Zahl
der Wölfe festzustellen. Als man mir diese Aufgabe antrug,
überlegte ich nicht lange. Es war eine Chance, meine Untersuchungen an den Gehegewölfen durch Beobachtungen
an freilebenden Wölfen zu ergänzen. Zudem hatte ich oft
Biologen kritisiert, die wissenschaftliche Untersuchungen
durchführten, ohne sich um die Lebensbedingungen in
freier Wildbahn zu kümmern. Für akademische Fragen
ist Zeit genug, wenn die dringenden praktischen Aufgaben zum Schutz der Tiere gelöst sind.
Ich sagte daher zu – unter der Voraussetzung, daß der
WWF auch einen »Counter Part« zur Verfügung stelle, mir
also einen italienischen Mitarbeiter gab. Man fand ihn in
Luigi Boitani aus Rom. Er war gerade von einem mehrjährigen Aufenthalt in den USA zurückgekehrt, wo er sich
hauptsächlich mit ökologischen Fragen beschäftigt hatte.
Auch er sagte zu und kam für ein paar Tage in den Bayerischen Wald, wo wir das Projekt besprachen. Ich merkte
sehr bald, daß Luigi der richtige Mann war ; wir wurden
Freunde, und unsere Zusammenarbeit in den nächsten Jahren funktionierte bestens, was sicherlich zum Erfolg des
Projekts beigetragen hat.
Bestand und Verbreitung der Wölfe in Italien
Die Lebensbedingungen der Wölfe in den Abruzzen dürften in vieler Hinsicht typisch sein für die Lebensbedingungen von Wölfen, die in von Menschen besiedelten und
landwirtschaftlich genutzten Gebieten leben : Bedingungen,
die, wie wir sehen werden, stark abweichen von jenen, die
wir in Nordamerika kennengelernt haben.
Luigi und ich
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