Der Wolf
gleich mir begeistert – und meine
»Autorität« als Wolfsexperte für den Rest unserer Zähltage
war gesichert. Am nächsten Tag fanden wir heraus, daß die
Wölfe am Abend, nachdem wir unseren Beobachtungsposten oberhalb der Senke geräumt hatten und volle Dunkelheit eingebrochen war, ebenfalls die Senke verlassen
hatten und auf der Straße – vorbei an dem Hotel, wo wir
alle wohl gerade beim Abendessen saßen – bis nach Santa
Eufémia gelaufen waren. Da der Schnee noch weich war,
hatten sie vermutlich das leichtere Vorankommen auf der
Straße dem Pflügen durch den Schnee vorgezogen. Spät in
der Nacht waren sie dann auf der inzwischen hartgefrorenen Schneedecke von Santa Eufémia in Richtung der steilen Abhänge des Maiella-Massivs gelaufen.
Ob die Wölfe etwas zu fressen gefunden hatten, konnte
die Gruppe, welche die Spur verfolgte, nicht feststellen. Ich
hatte an diesem Tag hoch oben am Berg eine weitere Spur
ausgemacht und war auf Schneeschuhen, an denen bei jedem
Schritt kiloweise nasser Schnee klebenblieb, mühsam hinaufgeklettert ; oben angelangt, mußte ich enttäuscht feststellen, daß ein Marder im Tiefschnee eine breite Bahn
gezogen hatte.
Eine Wolfsjagd
In den Dörfern verbreitete sich bald die Kunde von unserem Vorhaben. Wir bekamen Besuch von dem Lehrer aus
Santa Eufémia. Er erzählte, sein Hund sei mitsamt zwei
Welpen in der Nacht vor dem Schneesturm von Wölfen
gerissen worden. Außerdem würden die Wölfe fast jede
Nacht ein Schwein aus seinem Stall holen. Seine Vorwürfe
gegen die Wölfe und bald auch gegen uns wurden zunehmend lautstärker und ausdrucksvoller.
Wir sahen uns die Fellreste des Hundes und den Schweinestall an. Der Hund schien tatsächlich von Wölfen getötet und aufgefressen worden zu sein. Der Schweinestall war
ein entsetzlich dreckiger, baufälliger Schuppen. Türen und
Fenster waren mit Brettern, Pappdeckeln und alten Blechstücken vernagelt. Durch ein aufgerissenes Loch kletterten
wir in den Stall hinein und fanden etwa fünfzig Schweine
aller Altersstufen vor, die im Dreck herumsprangen. Der
Schaden gehe in die Millionen (Lire), jammerte der Lehrer.
Fast jede Nacht brächen die Wölfe im Stall ein und holten
sich ein Schwein. Wo in diesem irren Verschlag ein Loch
für Wölfe noch hätte frei sein können, konnten wir nicht
entdecken – aber der Mann schwor, daß sie hineinkämen.
Wie, wußte allerdings auch er nicht.
Wir gingen ins Dorf zurück. In der einzigen Wirtschaft
des Dorfes, einer kühlen, neonbeleuchteten »Bar«, saß eine
Gruppe von Männern, dick in Mäntel eingehüllt. Wir tranken
Centerba, einen grünen, aus hundert Kräutern der Gegend
gemachten 74prozentigen Schnaps, und sprachen mit den
Leuten. Auch sie hatten viel von dem Jammer des Lehrers
mit seinen Schweinen gehört. Selber hatten sie nur Schafe
und einige wenige Rinder. Nennenswerten Schaden durch
die Wölfe hatten sie nicht. Die Geschichte mit den Schweinen schien ihnen auch etwas übertrieben. Einmal, so berichteten sie, seien die Wölfe wirklich im Schuppen gewesen
und hätten auch einige Schweine gerissen. Daraufhin hätten sie die Gewehre geholt und seien in Richtung der Maiella-Steilhänge gezogen, von wo sie manchmal die Wölfe
heulen hörten. Der Weg sei aber zu beschwerlich gewesen,
und abends seien sie ins Dorf zurückgekehrt. Ob die Wölfe
danach wirklich weitere Schweine geholt hätten, wußten
sie nicht.
Dann fragten sie uns aus : Warum wir Wölfe schützen
wollten ? Zu was ein Wolf nütze sei ? Und ob wir keine Angst
vor den Wölfen hätten ? »Wieso Angst ?« fragten wir, nicht
so sehr, um unsere Gesprächspartner von der Ungefährlichkeit der Wölfe zu überzeugen, sondern erstaunt darüber,
daß diese Leute hier den Wolf als Gefahr ansahen. Ob sie
jemals von Wolfsangriffen gehört hätten ? »Nein, das nicht,
aber man hört doch viel über die Wölfe, im Fernsehen,
aus Amerika und Rußland und aus Büchern.« Sie würden
jedenfalls nicht nachts oben am Passo San Leonardo allein
die Straße entlanglaufen, und wenn wir dies ohne Angst
täten … »Ihr seid aus der Stadt. Ihr kennt das nicht.« Nur
der Schäfer, der jeweils die wenigen Schafe all dieser Männer morgens abholte und abends aus dem Gebirge zurückbrachte, sagte, auch er würde nachts auf der Straße laufen.
»Angst vor den Wölfen ? No mai.«
Erst Jahre später wurde mir klar, wieviel wir von den
Lebensgewohnheiten der Wölfe und von der Einstellung
der dortigen Menschen zum Wolf schon in diesen ersten
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