Der Wolf
Anzahl der Wölfe nicht überhandnähme,
waren auch sie nicht gegen den Wolf. Ebenso beurteilten
sie den Plan, Hirsch und Reh wiedereinzubürgern, die den
Druck des Wolfes auf ihre Schafe verringern könnten, in
der Regel zustimmend.
Ich finde diese Einstellung der Schäfer ganz bemerkenswert – immerhin steht ihresgleichen seit Jahrtausenden traditionell im Kampf mit Wolf und Bär. Weniger positiv eingestellt waren hingegen die Jäger. Obwohl der Wolf gegenüber ihren »Beutetieren« kaum eine Konkurrenz für sie war,
beurteilten sie seinen Einfluß weitgehend negativ, wobei sie
häufig den Schaden der Haustiere mit ins Feld führten. Als
ganz ablehnend eingestellt erwiesen sich schließlich diejenigen, die sich durch einen Skizirkus im Maiella-Gebiet
Vorteile versprachen, sei es, daß sie Hotels bauen wollten,
sei es, daß sie Gelände besaßen, das sie teuer zu verkaufen
hofften. Besonders ablehnend waren die Leute in Pacentro,
auf dessen Gemarkung die Skilifte und die Hotels entstehen sollten. Das Mädchen, das die Befragung durchführte,
wurde sogar einmal als »kommunistische Agentin« aus
dem Dorf vertrieben : eine Geschichte, die bald eine Vielzahl von Varianten erhielt.
Viel aufgeschlossener reagierten indes die Menschen in
den Dörfern, durch die wir besonders häufig fuhren und
wo viele uns persönlich kannten. Doch auch hier hing die
Meinung im wesentlichen von der Interessenlage ab, wenn
auch die Grundeinstellung freundlicher war. Dies zeigt,
so meine ich, daß aller Aufklärung, aller Public-RelationsArbeit in ihrer Wirkung Grenzen gesetzt sind. Es gab
Leute, mit denen wir bestens auskamen und die auch für
unsere Argumente zugänglich waren, die aber trotzdem
jeden Wolf schießen oder verfolgen wollten, wenn sie es
gekonnt hätten.
Die Befragung machte deutlich, daß Naturschutzarbeit
auf die Dauer nicht gegen die Interessen der einheimischen
Bevölkerung operieren kann, und seien sie noch so fragwürdig. Sie muß vielmehr versuchen, die Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Seite zu bringen, durch Einlenken, durch
Vorlage alternativer Entwicklungspläne, durch Bereitstellung von Ersatz für verlorene Rechte und natürlich auch
durch sehr viel sachliche, den widerstreitenden Interessen
nicht ausweichende Aufklärung. Die Menschen dürfen nicht
das Gefühl bekommen, auch die Naturschützer seien einige
von »denen da oben«, die, ohne sie zu fragen, bestimmen,
was in ihrer Gegend passieren soll. Sie müssen vielmehr
erkennen, daß der Naturschützer im Grunde auch ihre
Interessen vertritt. Das ist ein langer, mühseliger und durchaus politischer Prozeß, der in der Naturschutzarbeit, wie
mir scheint, nicht immer genügend beachtet wird. In den
Abruzzen, so glaube ich, ist es uns gelungen, unser Naturschutzanliegen – nämlich den Wolf zu erhalten – wenigstens ansatzweise in ein alternatives, ökologisches und ökonomisches Entwicklungskonzept zu integrieren, das sich
letzten Endes für die Menschen dieser Gegend als vorteilhaft erweisen wird.
Doch nicht nur auf der lokalen Ebene wird die Zukunft
des Wolfes und jener Werte, für die er steht, mitentschieden.
Eine wesentliche Rolle spielt auch die nationale Gesetzgebung. Hier gelang es Luigi Boitani und dem WWF zu guter
Letzt, zwei entscheidende Voraussetzungen für die Erhaltung des Wolfes zu schaffen. Im Dezember 1976, kurz vor
meiner Abreise aus Italien, wurde vom Landwirtschaftsministerium in Rom der Wolf überall in Italien auf unbeschränkte Zeit ganzjährig unter völligen Schutz gestellt.
Außerdem wurde jede Verwendung von Gift zur Bekämpfung von Tierpopulationen in der freien Landschaft verboten, und zwar ebenfalls für ganz Italien. Vielleicht weil
dieser letzte Erfolg so unerwartet kam, dafür aber um so
wichtiger war – und zwar nicht nur für den Wolf –, haben
wir uns darüber besonders gefreut.
Zwölftes Kapitel
Der Wolf : verehrt, verkannt, verleumdet
Auf Abwegen traf sie ihn zuerst im Wald, dann machte
er ihr sogleich im Bett große Augen, und schließlich vernaschte er sie ganz, wie zuvor die Großmutter – er, der
große, böse Wolf, dieser Wüstling. Doch der gute, treue
Jäger half ihr aus der Not – ihr, der Tochter aus gutem
Hause, die da auf verbotenen Wegen gewandelt war.
Als eines der berühmtesten Märchen ist die Geschichte
vom Rotkäppchen in aller Welt bekannt, und die Interpretationen, die sie gefunden hat, sind ebensowenig zu zählen wie
die Bilder, mit denen Künstler zu allen Zeiten das
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