Der Wolf
spektakuläre Thema illustriert haben. Generationen haben sich davon
in Spannung versetzen lassen, bis hin zu den heutigen Allerjüngsten, und dies, obwohl zumindest der Wolf und inzwischen wohl auch kleine Mädchen mit roter Haube – wenn
auch nicht die Jäger – bei uns längst ausgestorben sind. Tief
in unserem Bewußtsein verankert, erfüllt das Märchen vom
Rotkäppchen nach wie vor seinen pädagogischen Zweck :
daß nämlich der Wald und wilde Tiere gefährlich sind, desgleichen die Verlockungen des Unbekannten für Mädchen
allen Alters, wenn sie die Ermahnungen ihrer Mütter nicht
befolgen, auf dem rechten Weg zu bleiben. Der Jäger aber, als
Wächter der guten Sitte und der rechten Ordnung, schützt
uns vor allen diesen Gefahren des Wilden.
Mit dem Odium des Gefährlichen behaftet, ein Sinnbild
des Bösen schlechthin, ist der Wolf bei uns verhaßt, obwohl
er aus unseren Breiten seit Jahrhunderten verschwunden ist.
Dort aber, wo er noch lebt, stellen wir eine gewisse Toleranz ihm gegenüber fest, zumindest aber einen erstaunlichen Gleichmut. Dabei ist zu fragen, ob es diese Toleranz
war, die den Wolf mancherorts vor der Ausrottung bewahrte,
während blanker Haß ihn anderswo vernichtete. Oder war
der Wolf vielleicht doch nicht überall so schlimm, wie das
Märchen uns glauben machen will? Hilft uns seine Verteufelung heute nur, unseren Sieg über ihn und die Natur
zu rechtfertigen?
Jedenfalls ist es erstaunlich, daß es in den Abruzzen, mit
einer relativ hohen Bevölkerungsdichte, noch Wölfe gibt,
während sie etwa aus den unzugänglichen und fast menschenleeren Tundren Nordskandinaviens, wo man sie viel
eher vermuten würde, inzwischen verschwunden sind. Die
heutige Verbreitung des Wolfes ist offensichtlich nicht allein
von der Struktur eines Gebietes, von der Bewaldung, vom
Beuteangebot oder von anderen ökologischen Faktoren abhängig, sondern – und zwar in ganz wesentlichem Ausmaß
– unmittelbar von den Menschen.
Nun, für welche Tierart gilt das nicht ? Zur Umwelt, zur
Ökologie unserer Wildtiere gehört heute der Mensch mit
seiner Beziehung zu seiner Umwelt und zu den Tieren, die
darin leben. Diese Beziehung ist historisch entstanden, abhängig von Wirtschaft und Kultur. Um das Verhalten und die
Ökologie einer Tierart voll erfassen zu können, muß man
Amor im Wolfspelz …
deshalb auch diesen Faktor berücksichtigen – für einen Biologen eine etwas ungewöhnliche Aufgabe. Doch gerade der
Wolf, der wie kein anderes Tier unsere Phantasie beschäftigt und unsere Ängste geschürt hat, zwingt uns dazu.
Das Wolfsbild in der Geschichte
Von dem positiven Wolfsbild der Indianer und der Eskimos Nordamerikas habe ich schon berichtet. Sie jagten die
gleichen Beutetiere wie der Wolf, waren also im ökologischen Sinne seine Konkurrenten, wenn auch die Jagd des
einen die Beute des anderen kaum verringert hat. Nichtsdestoweniger mußte der Wolf auch von ihnen Feindseligkeiten ertragen, denn die Prärieindianer jagten ihn gelegentlich des Felles wegen, in schlechten Zeiten womöglich
auch als Nahrung. Trotzdem nannten sie ihn »Bruder«,
wohl in Kenntnis ihrer ähnlichen ökologischen Stellung.
Auf Büffeljagd gingen sie nicht selten in Wolfsfelle gehüllt.
Adulte Büffel und Büffelherden ließen Wölfe ohne weiteres an sich herankommen, da diese für sie kaum Gefahr
bedeuteten. Derart verkleidet, gelang es den Indianern, die
Fluchtdistanz der Büffel, die Menschen gegenüber viel größer war als gegenüber Wölfen, so weit zu unterschreiten,
daß sie Pfeil und Bogen oder Wurfwaffen erfolgreich einsetzen konnten.
Besonders gut ist uns die religiöse und mythische Vorstellungswelt der Indianer an der Westküste Kanadas bekannt.
Anschauungsmaterial liefern ihre geschnitzten »Totempfähle«, die Legenden, Sagen oder überlieferte Begebenheiten
abbilden. Auf dem einst über fünfzehn Meter hohen Totempfahl von Wakias in British Columbia ist ganz oben ein
Adler dargestellt, König und Herrscher der Lüfte, darunter ein Wal, Herrscher des Meeres, noch weiter unten ein
Wolf, Herrscher auf dem Land. Er galt als mutig und weise.
Nach der durch Erzählungen überlieferten Legende der
Indianer am Columbiafluß war die Zeit vor der ihrigen die
Zeit, als Menschen Tiere waren. Es gab die Hirsch-Menschen, die Biber-Menschen, die Vogel-Menschen und viele
andere Tier-Menschen mehr. Außerdem gab es Monster.
Meistens saßen sie in den Flüssen an den seichten Stromschnellen und zogen die
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