Der Wolf
großangelegte Wiedereinbürgerungen zu gewinnen.
Besonders hätten uns die Vermehrung, der Einfluß auf die
Vegetation und Interaktionen mit Haustieren sowie mit Wolf
und Bär interessiert. Leider konnten wir diesen Plan nicht
durchhalten. Das lag wohl auch daran, daß Luigi Boitani
und ich uns voll auf die Wölfe konzentrierten und die Beobachtung der Hirsche den Leuten vom Nationalpark überließen. Diese aber hatten, wie auch zu erwarten, vor allem
Interesse an der Wiedereinbürgerung der Tiere im Nationalpark, während sie Erkenntnisse für Aktionen in anderen
Gebieten als zweitrangig betrachteten. So blieben unsere
telemetrischen Halsbänder für die Hirsche unbenutzt – und
eine Chance war vertan. Von 1974 bis 1977 wurden weitere
achtundzwanzig Hirsche und sechzehn Rehe an verschiedenen Stellen im Nationalpark freigelassen. Die Hirsche
stammten alle aus dem Bayerischen Wald. Sie wurden im
Rahmen der Partnerschaft zwischen der Region Abruzzi
und Niederbayern sowie zwischen den beiden Nationalparks vom bayerischen Staatsministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten gespendet. Dessen Leiter, der
inzwischen verstorbene Minister Hans Eisenmann, mußte
dabei heftige Kritik gerade aus jener Gegend einstecken,
aus der er selbst stammte. Die »Bildzeitung« empörte sich
über »deutsche Hirsche für italienische Wölfe«, und auch
die Jägerschaft fand nicht gerade freundliche Worte.
Ein häufig verwendetes Argument war der »Vogelmord« in
Italien. Solange solche Mißstände herrschten, hieß es, dürfe
man auf anderen Gebieten nicht »ökologische Entwicklungshilfe« leisten. Im Grunde ging es wohl wieder um Beutekonkurrenz. Aber auch die vorgeschobenen Gründe waren
wenig stichhaltig. Sicherlich, der millionenfache Abschuß
von Vögeln, auch Zugvögeln, muß aufhören. Die Form der
italienischen Jagd ist unerträglich. Doch auch millionenfacher »Vogelmord« ist immer noch weniger schlimm, als
den Tieren ihren Lebensraum durch Trockenlegung letzter
Feuchtgebiete, Begradigung letzter natürlicher Wasserläufe,
Umbau natürlicher Wälder zu Fichtenplantagen, massive
Giftanwendung in Land- und Forstwirtschaft, kurz: durch
die Nutzung noch des allerletzten Quadratmeters unseres
Bodens zu nehmen. Hier, glaube ich, könnten wir selbst
einiges an »Entwicklungshilfe« gebrauchen.
Uns ging es bei der Wiedereinbürgerung der Hirsche
auch nicht darum, für den Wolf lebendes Futter heranzuschaffen, sondern darum, eine von Menschen, nicht zuletzt
den Jägern selbst, zerstörte ökologische Beziehung wiederherzustellen. Es sollten nicht nur die Wölfe ihre natürlichen
Beutetiere, sondern auch Hirsche und Rehe ihre natürlichen Beutegreifer zurückbekommen – eine ökologische
und, wie gesagt, auch gefühlsmäßige »Wiedergutmachung«,
die der gestörten Lebensgemeinschaft in den ausgewählten
Gebieten und den dort lebenden Menschen zugute kommen würde.
Die freigelassenen Hirsche vermehrten sich schnell. Im
Sommer 1976 zählte man hundertdreißig Tiere, wenige Jahre
später waren es doppelt so viele. Zuerst besiedelten die Hirsche die angrenzenden Täler, vor allem jene, aus denen in
Herden gehaltene Nutztiere inzwischen verbannt waren.
Natürlich haben sie die Vegetation, die sich mittlerweile
regeneriert hatte, erneut kräftig verbissen, doch die Reserven sind noch groß, und weite Landstriche sind nach wie
vor unbesiedelt. Die Hirsche können sich relativ leicht in
neuen Gebieten festsetzen, denn es dauert einige Jahre, bis
Wölfe und Bären dort die neue Beute zu nutzen verstehen
– nicht anders als die vielen Jäger, die ebenfalls Jahre brauchen, bis sie erkennen, welche Masse Fleisch »ungenutzt«
im Walde lebt. Die Jagd auf Schalenwild ist zwar im Nationalpark ganzjährig verboten, doch das bedeutet nicht viel
in einem Land, in dem die Wilderei eine jahrhundertealte
Tradition hat. Da indessen die einst so beliebte Jagd auf
Hirsch und Reh mangels Masse lange unterbrochen gewesen ist, kommt sie auch in der Illegalität nur zögernd wieder in Gang. Das dürfte den neu angesiedelten Wildpopulationen genügend Zeit lassen, sich zu etablieren.
Inzwischen hat die Forstverwaltung damit begonnen,
auch im Maiella-Gebiet Hirsche und Rehe aus einem großen Zuchtgatter freizulassen. Wie zuvor im Nationalpark
vermehren sich die Hirsche auch hier schnell, die Rehe aber
nur langsam. Deren große Standorttreue scheint sowohl für
die Vermehrung als auch für die Ausbreitung hinderlich zu
sein.
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