Der Wolf
für seinen Teil an die durch göttliche Macht
festgelegten Lebensbedingungen möglichst gut anpassen.
Erst später, etwa in den Fabeln des begeisterten Lutheraners Hans Sachs aus Nürnberg und in jenen des Heinrich
Steinhöwel, Stadtarzt zu Ulm, sollten die Fabeln auch eine
politische Dimension erhalten. Es war die Zeit, in der ein
für die neuen Ideen des Humanismus und der Reformation aufgeschlossenes Bürgertum, inzwischen zu erheblicher wirtschaftlicher Macht gekommen, sich dem kirchlich-feudalen Herrschaftssystem widersetzte. Den folgenden revolutionären Bauernbewegungen gegenüber waren
die Fabeldichter indessen – wie auch Martin Luther selbst,
der ebenfalls einige Fabeln schrieb – skeptisch oder gar
feindlich eingestellt. Jetzt wurde der Wolf zum Symbol
für den tölpelhaften, groben und einfältigen Bauern, der
die hergebrachte Ordnung stört. Als Beispiel hierfür sei
die Fabel vom Wolf und vom hungrigen Hund genannt,
die der Luther-Anhänger Burkhard Waldis in seine belehrend-moralisierende Fabelsammlung »Esopus« von 1548
aufnahm.
Der Hund wird von seinem Herrn schlecht gefüttert und
ist erbärmlich abgemagert. Eine List des Wolfes verschafft
ihm bessere Behandlung, wofür er den Wolf ein Lamm
aus der Herde seines Herrn reißen läßt. Als der Wolf um
eine nochmalige Vergünstigung dieser Art bittet, widersetzt sich der Hund. Doch mit dem Hinweis, er müsse ja
nur die Schafe bewachen, nicht das Haus, zeigt er dem
Wolf immerhin den Weg in die Speisekammer. Dort wird
der Eindringling entdeckt, und er muß eine saftige Tracht
Prügel einstecken. Die Moral lautet :
»Wir lernen hier vom geizigen Herrn :
der dem Gesinde gibt nicht gern
die Kost, die rechtens ihm gebührt,
sich selbst dadurch in Schaden führt.
Der Wolf uns anzeigen tut,
daß schädlich sei und gar nicht gut,
wenn jemand sich nicht läßt begnügen
an dem, was Gott ihm will zufügen.
Es werden uns dadurch bedeut
die tollen, frechen, rohen Leut,
die, wenn sie gute Tage haben
und sich an Trank und Speisen laben,
ganz ohne Gottesfurcht dann leben
und nichts auf gute Ratschläg geben.«
In schroffem Gegensatz zu dem harmlosen Tölpel, den er
in der Fabel des Volkes abgab, wurde der Wolf im Mittelalter von den Mächtigen als schreckenerregender Wüterich,
ja sogar als Werwolf dargestellt. Halb Mensch, halb Tier
und vom Teufel besessen, trieb er sein Unwesen in mondheller Nacht, trank das noch warme Blut, verschlang die
Eingeweide seiner unschuldigen Opfer in Orgien satanischer Grausamkeit – so wurde es den Untertanen berichtet und von diesen sicher auch geglaubt und weiter ausgeschmückt.
Die Lykanthropie, wie die vermeintliche Fähigkeit genannt
wird, sich in einen reißenden Wolf zu verwandeln, war freilich nicht nur eine Erscheinung jener Zeit. Schon in der
Antike hatte man in Geheimbünden und kriegerischen Bruderschaften Wolfsgötter verehrt. Es waren vor allem ehrgeizige junge Männer, die, als Wölfe verkleidet, nicht einmal
vor Menschenopfern zurückschreckten, ja sogar Kannibalismus trieben. Um in den Bund der Werwölfe aufgenommen
zu werden, mußte der Kandidat an einem Ritual teilnehmen, bei dem menschliche Eingeweide zusammen mit den
Innereien von Tieren gegessen wurden. Danach mußte er
ein Jahr lang wie ein Wolf unsichtbar in den Bergen leben
und durfte sich nur von Raub und Totschlag ernähren.
Auch bei den alten Germanen kannte man ähnliche Praktiken, bei denen junge Männer sich in blutrünstige Raubtiere verwandelt haben sollen. Man nannte sie Berserker,
»Krieger in Bärengestalt«, oder Ulfhednar, was soviel wie
»Wolfshirten« heißt. Nachkommen der einstigen Germanen, die sich diesem Erbe besonders verpflichtet fühlten,
fanden sich nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland zu
einer militärischen Untergrundorganisation namens Werwolf zusammen. Sie ging 1933 in der SA auf und wurde zum
Vorreiter der gleichnamigen nationalsozialistischen Freischärlerbewegung, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs
dem tief in die Heimat eingedrungenen »Feind« spürbare
Verluste beibringen sollte. In einer flammenden Rede vor
dem Volkssturm versuchte Hitler die alten Werwölfe ein
letztes Mal zu mobilisieren – ohne Erfolg, wie wir wissen.
Mehr Erfolg haben dafür heute noch die vielen Gruselgeschichten von Dracula, Werwölfen und anderen Monstern
in Filmen und Comics.
Niemals zuvor oder danach hat die Lykanthropie jedoch
solche absurden Ausmaße erreicht und so viel Leid über die
Menschen gebracht wie im ausgehenden
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