Der Wolf
Legende – Numitor, der Herrscher von Alba Longa, im Jahr 770 v. Chr. von
seinem Bruder Amulius gestürzt wurde. Allerdings behielt
Rhea Silvia, die einzige Tochter Numitors, für ihre männlichen Nachkommen den Anspruch auf den Thron ; da sie
indes als Vestalin, als jungfräuliche Priesterin, Keuschheit
gelobt hatte, mußte der neue Herrscher nichts befürchten.
Doch dann wurde Rhea Silvia ausgerechnet vom Kriegsgott
Mars geschwängert und gebar Romulus und Remus. Daraufhin befahl König Amulius, die beiden Kinder in einer
Kiste auf dem Tiber auszusetzen. In der Nähe des Palatins wurde die Kiste jedoch ans Ufer getrieben und hier
von einer Wölfin entdeckt. Sie säugte die Zwillinge und
zog sie auf, als wären sie ihre eigenen Jungen. Als Romulus und Remus später das Erbe ihres Großvaters übernahmen, gründeten sie aus Dankbarkeit für ihre Ziehmutter
just an der Stelle, wo diese sie einst gerettet hatte, die Stadt
Rom, das spätere Zentrum eines auf drei Erdteile ausgreifenden Imperiums.
Daß sich die beiden Brüder bald zerstritten und Romulus
schließlich Remus im Kampf um die Vorherrschaft erschlug,
ließ die selbstlose Tat der Wölfin nicht verblassen. Sie wurde
alljährlich auf dem Luperkalienfest in Rom verehrt und
galt fortan in Italien als Symbol mütterlicher Aufopferung
und Fruchtbarkeit, was sogar die Prostitution einschloß :
»Il lupanare« heißt auf deutsch das Bordell.
So galt der Wolf schon früh in unserer Geschichte, wohl
in Abhängigkeit von seiner realen Beziehung zum Menschen, entweder als Bote des Todes oder als Fruchtbarkeitssymbol, als Stellvertreter Satans auf Erden oder als Wächter
des Heiligen, als Städtegründer oder als wütender Krieger,
als Weltverschlinger oder als Stammvater von Herrscherdynastien. Doch die ganz große Auseinandersetzung mit
dem Wolf stand noch aus.
Das Mittelalter
Der Ausrottungsfeldzug gegen den Wolf begann nach dem
Zusammenbruch des Römischen Reiches. Auch infolge einer
Klimaverschlechterung waren wieder große Sumpfgebiete
entstanden, und der Wald hatte sich weitgehend regeneriert.
Ob die Anzahl der Wölfe, wie später häufig nach Kriegen
und einem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, zu
jener Zeit ebenfalls zunahm, wissen wir nicht. Sicher ist
nur, daß jetzt immer häufiger von Wölfen berichtet wird,
die unter den Haustieren großen Schaden anrichten, und
zum erstenmal auch von Wolfsüberfällen auf Menschen
die Rede ist. Kaiser Karl der Große (742–814) verpflichtete
seine Ritter zur Hatz nicht nur auf die heidnischen Sachsen, sondern auch auf die Wölfe. Erstmals hört man nun
von organisierten Wolfsjagden. Für sie wurden besonders
große Hunderassen gezüchtet, so der berühmte und bald
an allen Höfen Europas verbreitete irische Wolfshund, und
eine Vielzahl neuer Jagd- und Tötungsmethoden entwikkelt. Wie kam es zu diesem Wandel in der Beziehung zwischen Mensch und Wolf?
Bis dahin waren in Europa die Lebensräume von Wolf
und Mensch getrennt gewesen. Doch im frühen Mittelalter hielten in der Landwirtschaft wesentliche Neuerungen
Einzug. Der schwere Pflug wurde entwickelt, die Pferde
bekamen Eisen unter die Hufe, und die Dreifelderwirtschaft
setzte sich durch. Infolgedessen drang die Landwirtschaft
weit in bisher ungenutzte Gegenden vor, und die Bevölkerung nahm, insbesondere um die Jahrtausendwende, überall stark zu. Erneut wurden die Wälder gerodet, diesmal bis
hoch hinauf ins Gebirge, und in den verbliebenen Wäldern
wie auch in Mooren und Sümpfen ließ man jetzt die Haustiere weiden. Im Winter von Menschen gefüttert, konnten
sie die Vegetation viel intensiver nutzen als die Wildtiere, die
daher immer stärker verdrängt wurden. Nur in den jagdlichen Bannwäldern des auf seinen Ländereien ansässigen
Adels konnten sie sich halten, ja sie wurden mit zunehmender Bedeutung der Jagd hier gehegt. Ihrer ungehinderten
Vermehrung standen indes die Wölfe entgegen. Als Konkurrenten des Jägers bald unerbittlich verfolgt, zogen sie
in solche Gebiete, in denen die Menschen kaum bewaffnet waren, und hielten sich hinfort an Haustieren schadlos. So wurden sie hier zur Plage der Bauern und der Hirten, ja zur Landplage ganzer Regionen. Es war ein hausgemachter Konflikt, aber niemand dachte über Ursache und
Wirkung nach, wenn nun immer häufiger der Ruf durch die
Weiler hallte : »Die Wölfe kommen !« Die Kunde von Räubern oder marodierenden Soldaten war kaum schlimmer
als diese Schreckensbotschaft.
Von Werwölfen
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