Der Wolf
und anderen Fabelwesen
Nicht zu zählen sind die Geschichten, die Märchen, die
Fabeln, die Beschwörungen, die Riten vom, gegen, über den
Wolf in Brauchtum, Mythen und Aberglaube des Mittelalters und in den Jahrhunderten danach. Er war zum Teil
des Lebens der Menschen geworden. Jeder kannte ihn, und
doch wußte man nicht wirklich etwas von ihm. So wurden
die unterschiedlichsten Bilder von ihm gezeichnet, die uns
heute indes eher etwas über die Menschen von damals aussagen, über ihre Ängste und ihre Sorgen, über ihr Machtstreben und ihre Art, Unterdrückung zu überleben, als
über den Wolf selbst. Furchterregend war er gewiß und
überall verhaßt, doch zugleich auch ehrfurchtsvoll überzeichnet und bewundert wie, je nach Bedarf, lächerlich
gemacht und verachtet. Die Vorstellungen vom Wolf hatten
sich den Menschen so tief eingeprägt, daß uns ihr Wolfsbild heute, Jahrhunderte danach, noch immer anhängt –
ein Erbe aus jener Zeit.
Die Rolle des Wolfes im vorerst nur mündlich überlieferten Volksmärchen kennen wir schon. Er tritt hier nicht
besonders häufig auf, und wenn, dann eher als Wesen jenseits der Wirklichkeit, ähnlich den vielen übersinnlichen
Figuren wie Hexen, Feen oder Zauberern. Diese Wesen
stehen zwar in unmittelbarem Konflikt mit den handelnden Menschen, verkörpern aber eher untergründige Ängste oder verbotene Wünsche denn eine reale Gefahr. Ihre
Deutung obliegt heute dem Literaturhistoriker oder gar
Jesus und der Wolf (mittelalterlicher Stich).
dem Psychoanalytiker. Über die Stellung des wirklichen
Wolfes in der Vorstellungswelt der damaligen Menschen
sagen uns die Märchen wenig.
In der anderen großen Sparte der volkstümlichen Überlieferung, den Fabeln, spielt der Wolf hingegen eine prominente Rolle. Die Tierfabeln stammten aus dem Orient
und wurden im 6. Jahrhundert v. Chr. angeblich von dem
schlauen, listigen und mit allen Schwierigkeiten fertig werdenden Sklaven Äsop in Griechenland in literarische Form
gebracht. Richard Schaeffer schreibt in dem von ihm herausgegebenen Band »Deutsche Tierfabeln vom 12. bis zum
16. Jahrhundert« (Berlin 1955) : »Vermutlich hat Äsop nie
gelebt. Die Phantasie des Volkes dichtete sich ihren Helden
so zusammen, wie sie ihn brauchte : Äsop war klein, bucklig,
wulstlippig, er stotterte, schon seine äußere Gestalt verkörperte einen Gegenpol zum hellenistischen Schönheitsideal der
griechischen Oberschicht. Seine innere Größe entstammte
den Leiden und Mißhandlungen, denen er als Sklave ausgesetzt war und die er mit Geduld ertrug oder denen er kraft
seiner Geistesgegenwart auszuweichen wußte.«
Über Italien gelangten die Äsopschen Fabeln auch in den
germanischen Bereich, wo sie zuerst an Höfen und Klöstern zur Unterhaltung nacherzählt wurden. Eine neuerliche Entfaltung erfuhr die »Fabulierkunst« aber erst, als sie
vom Volk übernommen wurde und nun in humorvoll-satirischer Weise Lebensweisheiten, häufig auch im Umgang
mit der Oberschicht, verkündete. Aus den fremden Tierarten Löwe und Schakal wurden einheimische Tiere wie Bär,
Wolf und Fuchs, und auch der Handlungsablauf, die überraschende Pointe sowie die Schlüsse, die sich daraus ableiten ließen, paßten sich den anderen Lebensverhältnissen an.
Neben dem Fuchs wurde der Wolf zu einem der beliebtesten Fabeltiere. Aus dem ständigen Zweikampf mit anderen Tieren und dem Menschen gingen die beiden mal als
Sieger, mal als Verlierer hervor. Der Wolf gewann, wenn
er auf noch Dümmere traf, der Fuchs verlor, wenn einer
noch schlauer war als er. In ihren beiderseitigen Auseinandersetzungen siegte jedoch stets der schwächere, aber
listigere Fuchs über den stärkeren, aber begriffsstutzigen
Wolf, der zudem ungebildet und bei all seiner Kraft mitunter gutmütig-dumm daherkam.
Die Vermutung liegt nahe, daß hier der Wolf aus dem
Blickwinkel des Volkes die allmächtige Oberschicht jener
Zeit verkörpert, der Fuchs hingegen, ähnlich wie einst Äsop
selbst, den schwachen, aber raffinierten, sich der jeweiligen Situation anpassenden Untertanen, der auch nicht selten die Rivalitäten der Stärkeren untereinander zu seinen
Gunsten nutzt. Womöglich stellt der Wolf auch symbolhaft
die Natur dar, deren Stärke und Willkür durch den schwächeren, aber denkenden Menschen besiegt wird. Besonders interessant jedenfalls ist der rein individuelle Widerstand des Fuchses gegen die Willkür der Mächtigen. Die
Verhältnisse an sich wurden nicht in Frage gestellt. Jeder
mußte sich
Weitere Kostenlose Bücher