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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Zimen
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harmlos. Auch darüber später mehr.
    Von den ersten Versuchen der ganz kleinen, gerade drei
bis vier Wochen alten Welpen, vermeintlichen Beuteobjekten nachzujagen und sie zu töten, habe ich schon erzählt.
Die einzelnen Elemente sinnvoller Handlungsketten treten
dabei noch völlig getrennt und häufig auch in falscher Reihenfolge auf : Zuerst wird »totgeschüttelt«, dann das Objekt
angesprungen und in die Luft geworfen, und zuletzt wird
es angeschlichen. Dies ist typisch für alle Spiele, und um
solche handelt es sich hier auch zunächst. Sehr bald aber
kann aus dem Spiel Ernst werden, und dann funktioniert
es auf Anhieb erstaunlich gut.
    Von einer Hühnerschlachterei in der Nähe von Rickling,
aus der ich dreimal in der Woche Futter für die Tiere abholte,
nahm ich eines Tages drei junge lebende Hähnchen mit
nach Hause. Ich wollte sehen, zu welchen Verhaltensweisen
diese verkrüppelten, halb federlosen Lebewesen noch fähig
waren. Doch mit dieser Untersuchung kam es nicht weit.
Die gerade zehn Wochen alte Anfa interessierte sich sehr
für ihre schreienden und herumflatternden neuen Nachbarn in dem provisorisch hergerichteten Hühnerhof. Als
ich sie am folgenden Tag zum täglichen Spaziergang aus
dem Gehege ließ, schlich sie langsam auf die Hühner zu.
Dann ging plötzlich alles sehr schnell: Anfa rannte die letzten Meter auf den Zaun des Hühnerhofes zu, biß schnell
ein Loch in den dünnen Draht und stürzte sich auf eines
der Hähnchen. Mit den Vorderpfoten sprang sie ihr Opfer
an, drückte es damit zu Boden, stieß mit der Schnauze
nach, biß schnell mehrmals zu und rannte dann mit der
toten und für sie riesengroßen Beute weg. Dann begann sie
ihrer Beute die Federn auszureißen. Sie tat es vom Bauch
her, riß dabei die Haut auf, verschlang die Innereien zuerst
und fraß dann den Rest, sozusagen von innen heraus, auf.
Übrig blieben zuletzt nur die Deckfedern, einige Daunen
und die äußeren Enden der Flügel mit den Schwingfedern
sowie die Schwanzfedern.
    Einige Wochen später lief Anfa auf dem Weg zurück zur
Försterei zum erstenmal weg. Ich merkte es zu spät und
konnte sie nur noch zwischen den Häusern des Dorfes verschwinden sehen. Laut schreiend rannte ich hinterher. Auf
dem Hof des ersten Bauernhauses sah ich sie wieder, wie sie
in Richtung auf ein Dickicht davonlief, im Maul eine große
Gans. Die Schar der Gänse lief aufgeregt und zeternd umher.
Auf dem Hof stand der Bauer. Ihn schien das Ganze nicht
sonderlich aufzuregen. Er nannte seelenruhig den Preis für
die Gans, und ich versprach zu zahlen. Dieser verdammte
kleine Wolf, dachte ich, und rannte weiter hinterher.
    Auf der anderen Seite des Baches hörte ich Leute schreien,
und auf dem Kinderspielplatz, zwischen einer Schar begeisterter Kinder, fand ich Anfa wieder : ohne Gans. Winselnd
trabte sie mir entgegen, die Kinder alle hinterher. Sie sprang
an mir hoch, zerrte an meinen Kleidern und ließ sich ohne
Protest anleinen. Als wir dann endlich zu Hause angekommen waren, fuhr der Bauer mit einem Traktor vor. »Die
Gans lebt«, sagte er, »brauchst nichts zu zahlen.« Wie war
denn das nun wieder möglich ? Anfa hatte doch die Gans
im Maul davongetragen ! »Nein, sicher, die Gans lebt, sie ist
nicht einmal verletzt.« Ich hatte keinen Grund, dem Bauern nicht zu glauben.
    Die Jagd auf Beutetiere dieser Größe setzt sich beim Wolf
offensichtlich aus mehreren, teilweise voneinander unabhängigen Verhaltenseinheiten zusammen : dem langsamen
Anschleichen, dann dem Nachjagen, dem Anspringen und
dem Nachfassen mit der Schnauze und schließlich dem
eigentlichen Töten durch mehrmaliges Zubeißen. Danach
wird die Beute normalerweise eine Strecke lang im Maul
getragen, an einem ruhigen Ort abgelegt und gefressen. Auch
Anfa war der Gans nachgejagt und hatte sie gepackt, aber
wohl wegen der Größe der Beute und der vielen Störungen
um sie herum nicht getötet, sondern nach dem Fassen nur
davongetragen, und zwar über einen Kilometer weit, wo sie
dann, vermutlich wieder stark gestört, die für sie überaus
schwere Gans fallen gelassen hatte. Je nach äußerer Situation und wohl auch je nach Stimmungslage, etwa bei Hunger, führt der Wolf die einzelnen Elemente der gesamten
Handlungskette also entweder aus oder nicht.
    Im Laufe des Sommers wurden Hasen, Fasane und Rehe
auf dem Feld und im Wald für Anfa immer interessanter.
Zuerst jagte sie nur hinter sich schnell bewegenden Tieren
her. Dabei kam es manchmal zu Verwechslungen.

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