Der Wolf
denn sie ermöglichen unter Umständen,
der Wirklichkeit doch etwas näher zu kommen. Nur muß
immer deutlich darauf hingewiesen werden, ob es sich um
objektivierbare Beobachtungen beziehungsweise Versuchsergebnisse oder um Spekulationen handelt. So möchte ich
jetzt versuchen, eine etwas andere spekulative Deutung des
wölfischen Ausdrucksverhaltens zu geben.
Auch mein Modell geht von denselben beiden Antrieben aus : von der Aggression als Angriffstendenz und von
der Angst vor Verletzungen, die sich bis zur Flucht steigern kann.
Anders als bei Lorenz beschrieben hemmt wachsende
Angst in zunehmender Weise die Angriffstendenz. Daher
bleibt bei diesem Modell die obere rechte Hälfte (Abb. S. 145)
unausgefüllt, da nicht existent; eine Überlagerung der beiden Faktoren in beliebiger Stärke ist nicht möglich. Das
expressive Verhalten des Wolfes ist vielmehr Ausdruck für
die Stärke der Angst in Relation zur Angriffstendenz. Fehlt
jede aggressive Komponente und auch die Angst, kommt
es zu vielen verschiedenen Formen neutraler Kontaktnahmen, wo alle Ausdruckselemente – wie Mundwinkel, Ohren,
Schwanz, Augen, Körperhaltung – normal gehalten und lokker bewegt werden. Bei zunehmender Angst infolge eines
großen Rangunterschiedes zum Gegner oder bei direkten
Angriffen von dessen Seite kommt es zuerst zu Verhaltensweisen der Beschwichtigung, wie der aktiven und, bei größerer Unsicherheit, der passiven Unterwerfung. Hier drücken
Das neue Ausdrucksmodell. Von unten links nach unten
rechts :
zunehmende
Angriffstendenz ; von unten links nach
oben links : zunehmende Angst.
alle Ausdruckselemente das Fehlen jeder eigenen Angriffstendenz aus. Erst wachsende Stärke des gegnerischen Angriffs
führt dann zum Verteidigungsverhalten und schließlich
zur Flucht.
Nimmt beim Wolf die Angriffstendenz bei fehlender
Angst zu, kommt es erst zu der üblichen Rangdemonstration des stark rangüberlegenen Wolfes. Die Haltung und
die Bewegungen sind noch locker, die Rückenhaare in keinem Fall gesträubt. Auch bei größter Angriffstendenz bleiben die Bewegungen locker. Die Motivation des Wolfes ist
ausschließlich am Verhalten selbst, nicht an irgendwelchen
begleitenden Ausdruckselementen zu erkennen. Er greift,
ohne seine äußerst aggressive Stimmung zu zeigen, hemmungslos an. Stellt sich der Gegner, kommt es zu einem
ernsten Kampf. Zumeist aber flieht er. Reine Angriffstendenz ohne Angst ist jedoch selten.
Jagen.
Die allermeisten aggressiven Auseinandersetzungen treten in gehemmten Formen auf ; das heißt, die beteiligten
Tiere haben auch Angst vor ihrem Gegner, vor dessen Reaktion bei einem Angriff. Beim Vorstoßen wird der Gegner
fixiert, alle Ausdruckselemente sind auf ihn gerichtet. Verteidigt er sich als Folge des Vorstoßens und Schnappens,
springt der Angreifer sofort zurück und hält Abstand. Ist
der Stärke- beziehungweise der Rangunterschied zwischen
beiden wenig ausgeprägt, greift der Angreifer nicht mehr
Vorstoßen.
durch gezielte Bisse, sondern durch Einsetzen seines Körpergewichts an. Er drückt vor allem mit dem Hinterkörper gegen den Gegner, der durch mehrmaliges schnelles
Vorstoßen des Kopfes gegen die Halspartie des Angreifers
schnappt. Der leicht Überlegene wendet seinen Kopf und
präsentiert so seine empfindlichste Körperstelle dem Unterlegenen. Durch das Abwenden des Kopfes, also seiner einzig gefährlichen Waffe, wird auch die intensive Verteidigungsbereitschaft des Unterlegenen abgeschwächt. Seine
Schnappbewegungen hören auf. Sollte er aber das momentane Gleichgewicht zwischen Angriffstendenz und Angst
beim Angreifer stören, etwa durch weitere Schnappbewegungen und Bisse, erfolgt sofort eine heftige Reaktion des
Angreifers.
Wohl in keiner anderen Situation wird das fein abgestimmte Verhältnis zwischen Angriffstendenz und Angst
beim Angreifer und zwischen Angst und Verteidigungsbereitschaft beim Verteidiger so deutlich demonstriert wie
beim Halsdarbieten. Die Angst bei beiden verhindert, daß
beim einen die Angriffs-, beim anderen die Verteidigung
Imponieren mit Halsdarbieten.
stendenz überhandnimmt. Beides würde sofort wieder zu
einer Intensivierung der Auseinandersetzung mit Beißen
und zu womöglich ernsthaften Verletzungen führen. Voraussetzung für die Hemmung ist die richtige Einschätzung
des Gegners, das genaue Verstehen seiner Signale.
Bei einem noch weiter reduzierten Rangunterschied zwi
Gegenseitiges Imponieren.
Imponieren und passive Unterwerfung.
schen den
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