Der Wolf
Andra um und stieß gegen die neue Angreiferin vor,
wobei wieder die andere von hinten angriff und so weiter.
Andras ganzer Hinterkörper war dadurch zu einer einzigen offenen Wunde geworden. Da Andra sich aber sehr
intensiv verteidigte, kam es nicht wieder zu diesen völlig
hemmungslosen Kämpfen. Auch die Rüden beteiligten sich
manchmal an den Vorstößen, allerdings eher in einer spielerischen Art und Weise. So wurde Andra zum »Prügelknaben« des Rudels und war sozial völlig rechtlos. Sie hielt
Abstand zu allen anderen Wölfen des Rudels. Dabei wußte
sie aber ganz genau, wer für sie gefährlich werden konnte
und wer nicht. So ließ sie die Rüden ziemlich nahe an sich
herankommen, bevor sie die Zähne bleckte oder Vorstöße
mit Schnappbewegungen gegen sie richtete. Anfa und Mädchen dagegen wurden schon von weitem intensiv angedroht.
Nur Großkopf, Andras Wurfbruder, beteiligte sich in keiner Weise an den Auseinandersetzungen.
Mit der Umstellung in der Rangordnung veränderte sich
das Verhalten von Anfa und Mädchen schlagartig. Anfa
wurde wieder zu der großen Spielinitiatorin des Rudels, und
obwohl sie lange noch durch die Wunden aus dem Kampf
behindert war, war sie im Spiel sehr wild und ausgelassen.
Auch Mädchen spielte sehr intensiv mit, und dabei zeigte
auch sie, wie früher die beiden älteren Weibchen, im Spiel
erste Expansionstendenzen gegen Anfa. Sie biß mal etwas
kräftiger zu, und das Spiel zwischen den beiden Weibchen
wurde zunehmend aggressiver.
Auszug aus dem Tagebuch vom 12. Juli 1969 :
»Beim Spazierengehen am Nachmittag greift Mädchen
mehrmals unerwartet Anfa an. Anfa protestiert heftig gegen
diese Angriffe, aber Mädchen springt nur weg und greift von
hinten aufs neue an. Erst als ich Mädchen an die Kette nehme
und Anfa frei laufen lasse, hört die Aggressivität auf.
20.35 Uhr : Den ganzen Abend ist die Stimmung zwischen
Anfa und Mädchen explosiv. Ich beobachte vom Fenster aus.
Plötzlich rennt Mädchen wieder auf Anfa zu und beißt sich
diesmal in den Nackenhaaren von Anfa fest. Beißschütteln.
Anfa verteidigt sich intensiv, und es kommt zu einem hemmungslosen Kampf. Ich renne schreiend in den Zwinger
hinein, aber der Kampf ist schon zu Ende. Trotzdem sind
beide stark verletzt. Der Sandboden im Zwinger ist rot von
Blut. Beide legen sich, die andere fixierend, hin und lecken
sich ihre Wunden.«
Auszug aus dem Tagebuch vom 13. Juli 1969 :
»6.30 Uhr : Die Nacht habe ich im Gehege geschlafen und
keine weiteren Kämpfe zwischen Mädchen und Anfa beobachtet, aber schon in der Dämmerung fängt Mädchen wie der an, Anfa zu umkreisen. Noch hält sie Abstand. Anfa protestiert sehr lautstark, aber hat offensichtlich starke Hemmungen, Mädchen anzugreifen. Mädchen trägt jetzt den
Schwanz hoch und läuft in federndem Schritt, während Anfa,
den Schwanz leicht eingeklemmt, in gebückter Haltung herumläuft. Keine der beiden nimmt von Andra mehr Notiz.«
In den nächsten Tagen war die Situation zwischen Anfa
und Mädchen sehr labil. Keine der beiden spielte, sie waren
ständig nur damit beschäftigt, sich gegenseitig im Auge zu
behalten, einander zu umkreisen, zu drohen und zu imponieren. Vor allem Anfa war durch ihre Wunden an den Beinen in ihren Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt.
Auszug aus dem Tagebuch vom 21. August 1969 :
»17.30 Uhr : Mädchen imponiert wie üblich gegen Anfa.
Anfa greift an und richtet kräftige Schnappbewegungen
gegen den Hals von Mädchen, die den Kopf wegdreht. Längere Zeit stehen sie so Seite an Seite und drohen laut. Wieder schnappt Anfa gegen den Hals von Mädchen, die darauf hochspringt und den Kopf gegen Anfa wendet. Es entwickelt sich plötzlich nochmals ein Ernstkampf. Andra
schießt von hinten dazu und greift mit Anfa zusammen
Mädchen an. Der Kampf dauert rund zehn Minuten und
ist wie immer völlig lautlos. Mädchen verteidigt sich intensiv, kann aber dann die heftigen Angriffe der beiden Älteren nicht mehr abwehren und flieht in defensiver Haltung.
Anfa rennt hinterher, jetzt mit hochgehobenem Schwanz
und im Federschritt. Die Rücken- und Nackenhaare stehen hoch. Mädchen verteidigt sich in einer Ecke.«
In den nächsten Tagen und Wochen unternahm Anfa,
jetzt wieder als Alpha-Weibchen, immer wieder intensive
Unterdrückungsausfälle gegen Mädchen und gelegentlich
auch schwächere gegen Andra. Mädchen war wieder ganz
unten in der Rangordnung. Sie versuchte am 22. August
– also einen Tag nach dem Verlust ihrer Alpha-Stellung
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