Der Wolf
Falls keine Inzucht stattfindet, sind
bei Vollgeschwistern, Kindern und Eltern 50 Prozent, bei
Onkeln und Neffen 25 Prozent und bei Cousinen 12,5 Prozent der Gene im Durchschnitt völlig gleich oder »identisch«, wie häufig gesagt wird. Die Gesamteignung eines
Tieres ist demnach sein individueller Beitrag zur Fortpflanzung seiner Gene zuzüglich des Beitrags, den es zur Fortpflanzung der gleichen Gene durch verwandte Tiere leistet. Je verwandter also zwei Tiere sind, das heißt, je größer der Prozentsatz völlig gleichen Genmaterials ist, um
so mehr »lohnt es sich« demnach für eins von beiden, die
eigene womöglich erfolglose Reproduktion zurückzustellen zugunsten der erfolgreichen Aufzucht der Jungen des
anderen. Die Wahrscheinlichkeit, daß die gleichen Gene,
die es selbst besitzt, in die nächste Generation übergeführt
werden, wird dadurch größer.
Um eventuelle Mißverständnisse zu vermeiden : Wir dürfen uns keinesfalls vorstellen, daß die Tiere – oder auch der
Mensch, für den das Konzept der Gesamteignung, falls es
richtig ist, natürlich ebenfalls gelten muß – etwa wissen oder
auch nur ahnen, was den Fortpflanzungserfolg ihrer Gene
erhöht. Vielmehr hat sich ein solches für den Gesamterfolg
der Gene richtiges Verhalten durch die natürliche Selektion entwickelt, indem die Träger weniger »eigennütziger«
Gene – und somit auch diese Gene selbst – relativ immer
weniger wurden. Zweckmäßigkeit wird nicht durch Einsicht erreicht, sondern durch Selektion.
Die Theorie der Gesamteignung oder die der »eigennützigen« Gene gibt nicht nur eine zwanglose Erklärung dafür,
warum mehrere erwachsene Wölfe in einem Rudel bleiben,
in dem nur ein Wurf im Jahr geboren wird. Sie erklärt auch
die eigentlich ebenso erstaunliche Tatsache, daß sich ein
Wolf für Jahre einem anderen unterordnet – wie beispielsweise Näschen zuerst Wölfchen (seinem Bruder) und später
Olomouc (seinem Stiefsohn) oder wie die Jungwölfe den
Älteren. Ebenso rückt sie die auf den ersten Blick unverständlich starke (und der Vorstellung über angebliche Gattentreue bei Wölfen widersprechende) Aggressivität des
Alpha-Weibchens gegen den langsam schwächer werdenden
langjährigen Partner (zum Beispiel Finsteraus Angriffe auf
Näschen) in ein neues Licht. Zwischen den reproduzierenden Partnern eines Rudels bestehen in der Regel keine oder
nur weit entfernte verwandtschaftliche Beziehungen. Für
die erfolgreiche Aufzucht der eigenen Jungen ist ein starker Partner von Vorteil, und so wird der durch hohes Alter
oder durch Verletzungen geschwächte Partner im Interesse
der eigenen »fitness«, des eigenen Fortpflanzungserfolges,
vertrieben. Weiter läßt sich mit dieser Theorie auch einiges
zum Phänomen von Freundschaften beziehungsweise fehlenden Feindschaften zwischen den Wölfen eines Rudels
auf der Ebene populationsgenetischer Funktionszusammenhänge deuten. (St. Oswald etwa, der Wurfbruder Finsteraus,
beteiligte sich unter den Rüden besonders stark an der Aufzucht von Finsteraus Welpen.) Über Ursachen und Funktionen von Freundschaft und Feindschaft im Wolfsrudel
gibt es allerdings, wie schon früher betont, noch viel zu
forschen. Überhaupt scheint mir, daß wir erst am Anfang
funktionaler Analysen sozialen Verhaltens stehen.
Nach meinen Beobachtungen an den Gefangenschaftsrudeln spielt der Rang, den ein Wolf in der hierarchischen
Struktur seiner Alters- und Geschlechtsklasse im Rudel
innehat, eine für dessen Eignung ganz wesentliche Rolle.
Solange die Welpen das allgemeine Wohlwollen der Älteren
genießen, bedarf es für sie keiner Rangordnung. Der Zugang
zum Futter wird, wenn nötig, durch lokalisierte Auseinandersetzungen behauptet. Erst wenn es um die Behauptung vakant gewordener Positionen in der eng begrenzten
Erwachsenengruppe geht, ist der Ranghöhere unter den
Heranwachsenden im Vorteil. Bei den erwachsenen Wölfen schließlich ist ein höherer – wenn möglich der höchste – Rang bei den Rüden von Vorteil ; bei den Weibchen ist
der höchste Rang sogar die Voraussetzung für die Reproduktion.
Danach müßte ein Wolf im Rudel ständig versuchen, seinen Rang zu verbessern. Wir haben aber gesehen, daß viele
Tiere dies nicht tun, und verstehen jetzt, daß es im Interesse
ihrer Gesamteignung so ist. Dies gilt vor allem für ältere
subdominante Wölfe. Für jüngere Wölfe hingegen ist eine
hohe Position Voraussetzung für den Verbleib im Rudel.
Demnach müssen sie ein größeres
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