Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
DREISSIG
Verbündete
E s war noch nicht einmal ein ganzes Jahr her, dass Han zum letzten Mal in Ragmarket gewesen war, und trotzdem kam es ihm irgendwie anders vor – es schien kleiner zu sein, die Straßen wirkten schmaler, ärmlicher und verwinkelter, die Häuser schäbiger.
Vermutlich war alles noch genauso wie früher. Vermutlich war er derjenige, der sich verändert hatte.
Die Leute in Ragmarket führten ein unstetes Leben, daher überraschte es ihn nicht, dass ihm einige der Verkäufer auf dem Markt fremd waren. Auch die Bewohner der Pflastersteinstraße waren inzwischen andere. Wo sich einst der Stall befunden hatte, klaffte jetzt eine Lücke, wenngleich es die Schmiede, bei der er das Amulett von Alger Waterlow vergraben hatte, immer noch gab, über und über mit Gang-Symbolen bemalt.
Er bewegte sich jetzt mithilfe eines Zaubers über die Straßen von Ragmarket, der die Leute dazu brachte, ihm aus dem Weg zu gehen, ohne ihn wirklich zu bemerken. Es gab kaum Geschubse von Taschendieben, kaum Anmache von Lustmädchen. Er war nichts als ein weiterer Schatten in einem düsteren Teil der Stadt.
Überall gab es Hinweise auf die Dornenrosen-Stiftung – Banner priesen freie Mahlzeiten an, Tempelredner versprachen kostenlose Bücher, Heiler für die Kranken und ein Dach über dem Kopf. Der Unterricht der Redner, an dem sowohl Lýtlings als auch Erwachsene teilnahmen, widmete sich den unterschiedlichen Berufen und Künsten, der Religion, dem Lesen und Rechnen.
Trotz des warmen Wetters schien der Fluss weniger zu stinken als früher. Im Zuge einer der endlosen Besprechungen im Schloss hatte Raisa ein Projekt auf die Beine gestellt, in dessen Rahmen die Flüchtlinge aus den Flatlands vom Fluss weggebracht und im Osten der Stadt in Zeltlagern angesiedelt worden waren. Die Armee leitete die Menschen dazu an, Gruben für Aborte auszuheben und stabile Häuser zu bauen – als Gegenleistung wurden sie medizinisch versorgt und erhielten regelmäßig Nahrungsmittel.
Manche knieten sich auch wirklich in ihre Aufgabe hinein, Menschen, die der Trägheit und des Hungers überdrüssig waren und den Nutzen in ihrer Tätigkeit erkannten. Andere wiederum entschieden sich, nach Hause zurückzukehren und ihr Glück in den Flatlands zu versuchen, wo es leichtere Arbeit und selbst in Kriegszeiten reichhaltigeres Essen gab.
Aber egal was sie taten, zumindest warfen sie keine Abfälle mehr in den Fluss.
Auf dem Weg zu seinem alten Gang-Hauptquartier schlängelte sich Han zuversichtlich durch die Straßen und nahm zwischendurch ein paar Umwege über Dächer und durch einige vollbesetzte Schenken. Er glitt in Türeingänge, wartete ab und beobachtete, ob er seine Verfolger endlich abgeschüttelt hatte – denn schon seit seinem Aufbruch vom Schloss wurde er beschattet. Beim nächsten Mal würde er ein Wörtchen mit ihnen reden, aber jetzt hatte er Dringenderes zu tun.
Als er die Pilfergasse erreichte, war er sie endlich losgeworden. Ein Gang-Symbol prangte am Eingang zu dem Gebäude, in dem einst sein Unterschlupf gewesen war – Blitz und Stab als Warnung für andere, sich fernzuhalten.
Han ließ sich durch eine Falltür im Dach des Lagerhauses auf einen Steg hinunter. Unter falschem Namen hatte er in aller Stille das gesamte Gebäude von seinem ersten Monatsgehalt gekauft, das er von der Königin bekam. Eigentum war in Ragmarket billig zu erwerben, und er wollte nicht, dass irgendein anderer Hausbesitzer in seinen Sachen herumschnüffelte.
Er starrte drei Stockwerke tief nach unten und sah Dancer mit gebeugtem Kopf am Arbeitstisch sitzen. Seine Haut hatte wieder eine kränklich wirkende Blässe angenommen, wie immer, wenn er sich in der Stadt aufhielt. Er hatte im ersten Stock einen Schmelzofen aus Lehmziegeln gebaut, der über das Dach belüftet wurde.
Im Erdgeschoss warteten noch drei weitere Leute auf Han. Mit Cat hatte er gerechnet. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, Sarie und Flinn hier wiederzusehen, geschweige denn überhaupt noch einmal in diesem Leben.
Han erstarrte für einen Moment. Er war hin und her gerissen zwischen Erleichterung, Freude und der Besorgnis darüber, dass Cat die beiden ohne sein Wissen und seine Zustimmung hergeholt hatte.
Als Cat ein Geräusch hörte, sprang sie auf, ein Messer in jeder Hand. Dann, als sie bemerkte, dass es Han war, schob sie die Klingen wieder zurück und stand abwartend da, die Hände in die Hüften gestemmt, das Kinn gereckt, als wäre sie bereit, gegen ihn zu
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