Der Wolfsthron: Roman
wussten genau, welchen Weg sie nehmen musste, und sie würden alles tun, damit sie das Marisa-Pines-Camp nicht erreichte. Es war ein strahlender sonniger Wintertag. Wo immer sie auch hinging – sie würde Spuren auf der frischen Schneedecke hinterlassen. Es war besser, wenn sie auf den Schutz der Dunkelheit wartete und dann vorsichtig weiterging und sich dabei – wann immer möglich – abseits des Pfades zwischen den Bäumen bewegte. Vielleicht konnte eine einzelne Person in der Finsternis dem Hinterhalt entgehen, den sie zweifellos für sie errichtet hatten.
Manchmal war nichts tun anstrengender als irgendetwas tun.
Sie versuchte, vorauszublicken und sich selbst davon zu überzeugen, dass sie es schaffen würde und dass all diese Mühen, diese Kämpfe nicht umsonst sein würden. Sie war fest entschlossen, am Leben zu bleiben und sich an denen zu rächen, die Edon Byrne getötet hatten. Und die sich alle Mühe gaben, sie zu töten.
Im Marisa-Pines-Camp würde sie sich im Schutz der Clans etwas ausruhen können. Sie würde endlich um diejenigen trauern können, die mit ihrem Leben dafür bezahlt hatten, dass sie durchgekommen war. Und wenn sie erst einmal dort war, konnte sie ihrer Mutter, der Königin, eine Nachricht über den Überfall und den Verlust ihres Hauptmanns zukommen lassen.
Sein Tod war ein massiver Angriff auf die Autorität der Königin. Vielleicht würde er Königin Marianna aufwecken, vielleicht würde sie endlich erkennen, welche Gefahren den Grauwolf-Thron wirklich bedrohten. Vielleicht würde Marianna sich bereit erklären, zum Camp der Demonai zu reisen, wie Elena es vorgeschlagen hatte, und den Clan-Heilern gestatten, den Hohemagier zu überprüfen, ob er immer noch an die Königin gebunden war. Sie konnten herausfinden, wie viel Schaden Gavan Bayar angerichtet hatte, und einen Weg finden, ihn zu beheben.
Wenn sie das hier überlebte, so schwor sich Raisa, würde sie ihrer Mutter mit aller Kraft helfen, diesen wichtigsten aller Kämpfe zu gewinnen. Sie würden sich verbinden – Mutter und Tochter, Königin und Erbprinzessin. Falls Marianna nach Raisas Jahr im Exil dazu bereit war.
Sie repräsentierten das Grauwolf-Geschlecht – und nichts konnte sich ihnen entgegenstellen.
Selbst Mellony würde dabei eine Rolle spielen. Raisa wollte sich ihrer jüngeren Schwester annähern und sie nicht mehr nur als Rivalin im Kampf um die Macht und die Zuneigung ihrer Mutter betrachten.
Eine Begegnung mit dem Tod war manchmal die Hebamme für ein neues Leben. Für Weisheit und gute Absichten. Raisa betete, dass sie lange genug leben würde, um sie auch in die Tat umsetzen zu können.
Derart entschlossen rollte sie sich neben dem Feuer zusammen. Sie musste schlafen – sie würde in der Nacht einen klaren Kopf benötigen.
Aber es dauerte lange, ehe sie einschlief. Von überall her bedrängten sie Gefahren. Sie drückten sie nieder, pressten sie flach auf den Boden. Mehrmals riss sie hektisch die Augen auf, als ein leises Geräusch sie erschreckte.
Als sie endlich doch einschlief, waren ihre Traumsequenzen so lebhaft wie Fieberträume oder wie die Bilder in einem Gedenkstein der Clans.
Sie lag neben Han Alister auf dem Dach der Bayar-Bibliothek in Odenford, und ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. Über ihnen explodierte ein Feuerwerk und ließ Flammen vom Himmel regnen. Plötzlich rollte er herum, drückte sie auf die Dachziegel und hielt ihr ein Messer an die Kehle. »Wie sind die Regeln, um miteinander auszugehen?«, fragte er. »Wen darfst du küssen und wie oft, und wer fängt an?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Ich kenne die Regeln nicht.«
Und er sah sie mit seinen fesselnden blauen Augen an, strich ihr mit seinen heißen Fingern über die Wange und flüsterte: »Wovor hast du Angst? Vor Dieben oder Magiern?«
Die Szene löste sich auf, und sie war wieder ein kleines Kind, das sich auf dem Schoß ihrer Mutter zusammenkauerte. Marianna las aus einem Bilderbuch vor, während Raisa mit den Fingern in den schimmernden Haaren ihrer Mutter spielte.
Danach träumte sie von einem lang zurückliegenden Picknick auf Hanalea. Ihre Mutter bewarf ihren Mann mit harten Brötchen, nachdem der sie aufgezogen hatte. »Nächstes Mal suche ich mir eine Frau, die nicht so gut zielt«, sagte Averill lachend.
Die Szene veränderte sich erneut. Marianna saß neben dem aufgeblasenen Herzog von Chalk Cliffs, der sich für einen ziemlichen Frauenheld hielt. Der Herzog schnatterte unaufhörlich über
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