Der Wolfsthron: Roman
deine Pflicht nicht. Aber wähle die Liebe, wann immer du kannst.«
Raisa starrte sie an. »Wer bist du?«, flüsterte sie.
»Ich bin Hanalea ana ’Maria, die die Welt zerstörte – und wieder heilte.«
»Aber …« Raisa suchte noch nach Worten, als Hanalea bereits den Kopf neigte und sich abwandte. Dann begann sie zu laufen, die Ohren angelegt, der Schwanz hinter ihr herflatternd, und verschwand in den Schatten der Bäume.
Raisa öffnete die Augen. Sie lag auf dem Rücken und starrte zu den Baumkronen hoch. Kälte und Feuchtigkeit drangen durch ihren Umhang. Schnee rieselte zu Boden, als der Wind die Zweige bewegte.
Marianna, flüsterten sie.
Sie setzte sich auf; ihr Kopf immer noch benommen von dem Nachhall der Träume, in ihrem Bauch ein Knoten aus Angst.
Also war es ein Traum gewesen. Aber was hatte er zu bedeuten? War es ein Albtraum, der ihre Sorgen widerspiegelte? Eine düstere Vorahnung, dass etwas passieren würde? Eine verworrene Parabel, die etwas ganz anderes symbolisierte?
Es hieß, dass die Grauwolf-Königinnen die Gabe der Vorhersehung besaßen, aber bei ihrer Mutter Marianna hatte sie das nie beobachten können. War dies der Weg, auf dem die Botschaften übermittelt wurden – von grauen Wölfinnen in einem Traum?
Aber vielleicht war es auch einfach nichts weiter als das – ein Traum . Als Folge eines traumatischen Tages.
Konnte sie auf eine Tradition von Magie vertrauen, die in einem tiefen Schlummer gelegen zu haben schien – das Relikt einer Vergangenheit, in der Magier sich anständig verhalten hatten und die Macht der Amulette ewig fortdauerte? Als Königinnen noch gewusst hatten, was sie taten?
Was würde sie vorfinden, wenn sie wieder in Fellsmarch war? Welche Gefahr konnte so machtvoll sein, dass die Wölfe diese Warnung ausstießen?
Sie musste es wissen. Sie musste mehr wissen.
Sie mühte sich auf die Beine – und bemerkte währenddessen, dass der Schnee um die Lagerstelle herum von Pfotenabdrücken übersät war.
Wolfsspuren .
Bei den Gebeinen, dachte sie. Vielleicht war sie ja dabei, den Verstand zu verlieren.
»Tut mir leid«, flüsterte sie zu Gillens Pferd, das die ganze Zeit gesattelt dagestanden hatte. Es war ihm gelungen, sich den Rücken an einem Baum zu scheuern, sodass der Sattel jetzt schief hing. Sie lockerte die Gebissstange, um ihm etwas zu fressen und zu trinken geben zu können, dann zurrte sie den Sattelgurt wieder fest und saß auf.
Als sie aus der dunklen, schmalen Schlucht ritt, war es sogar heller, als sie gedacht hatte. Der Schnee reflektierte die letzten Sonnenstrahlen des Tages, die den Weg vor ihr beleuchteten. Sie sah sich in alle Richtungen um, dann wandte sie sich nach Norden, zum Marisa-Pines-Camp.
Wann immer es möglich war, lenkte Raisa den Wallach abseits des Pfads in den Schutz der Bäume, auch wenn sie dadurch langsamer vorankamen. Sie hoffte einfach, dass sie auf diese Weise nicht von oben gesehen werden würde, falls dort jemand lauerte. Sie hielt Gillens gespannte Armbrust fest, auch wenn sie wusste, dass ein Schuss sie nicht retten würde.
Es kostete sie Überwindung, den Wallach zu zügeln, wo sie ihn doch am liebsten zum Galopp angetrieben hätte und die ganze Strecke entlanggerast wäre, um endlich in Sicherheit zu sein. Gelegentlich blieb sie stehen und lauschte, aber das Einzige, was sie hörte, waren die leichten Bewegungen der Zweige über ihr und das sanfte Knirschen, mit dem Schnee auf Schnee fiel.
Diejenigen, die hinter ihr her waren, würden sich ebenfalls nur sehr vorsichtig bewegen, damit sie ihnen nicht etwa in der Eile durch die Lappen ging. Vielleicht hatten sie ihr aber auch eine Falle gestellt und warteten jetzt wie die Spinnen darauf, dass sie hineinstürzte.
Sie gab sich alle Mühe, ihre Umgebung wachsam im Auge zu behalten und sich nicht ihren Gedanken hinzugeben. Sie konnte es sich nicht leisten, ausgerechnet jetzt darüber zu sinnieren, welche Weichen sie hierhergeführt hatten, an diese Stelle, an der Leben und Tod sich kreuzten. Ihre Zukunft – ihr Leben hing von dieser kurzen Zeitspanne auf diesem schmalen Pfad ab, der von Delphi über den Marisa-Pines-Pass zum Camp weiter unten führte.
Wo sind die Demonai?, dachte sie. Wieso konnten sie diesen Weg nicht jetzt patrouillieren?
Als das Tageslicht immer schwächer wurde, lockerte Raisa ihren verkrampften Griff, mit dem sie die Zügel umklammerte. Vielleicht konnte sie jetzt etwas schneller vorankommen, zumindest so lange, bis der Mond aufging. Aber
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