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Der Wolfsthron: Roman

Der Wolfsthron: Roman

Titel: Der Wolfsthron: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cinda Williams Chima
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sein Jagdhaus in den Heartfangs, und dass sie ihn unbedingt besuchen sollte. Marianna sah Raisa über den langen Tisch hinweg an, wölbte dabei eine Augenbraue und verzog den Mund zu einem leichten Lächeln. Ihre Mutter konnte mit einer kleinen Geste, mit einer schwachen Veränderung ihres Gesichtsausdrucks mehr sagen als Redner Redfern in einer einstündigen Predigt.
    Schließlich schmiegten Raisa, Mellony, Marianna und Averill sich in einem Pferdeschlitten aneinander, als sie zur Sonnenwendfeier hinausfuhren, um das Feuerwerk zu sehen. Mariannas Wangen waren rosig vor Kälte, und sie lachte wie ein junges Mädchen. Raisa saß zwischen ihren Eltern und hielt ihre Hände; sie war die Verbindung zwischen ihnen. Dies entfachte mehr Wohlgefühl in ihr als all die Felle, in die sie eingewickelt war.
    Es folgten weitere Traumbilder, neu und unvertraut. Handelte es sich dabei gar nicht um ihre eigenen Erinnerungen? War es Hellseherei? Weissagung? Oder die jüngste Vergangenheit?
    Ihre Mutter kniete mit gesenktem Kopf im Kathedralen-Tempel. Sie hatte die Hände gefaltet, und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Redner Jemson kniete neben ihr und drückte ihre Schulter mit einer Hand. Er sprach leise und Marianna nickte und sagte ebenfalls etwas, aber Raisa konnte sie nicht verstehen.
    Dann saß Marianna in ihren persönlichen Gemächern an ihrem Schreibtisch, kritzelte ein paar Worte auf ein Blatt Papier und verspritzte in der Eile die Tinte. Redner Jemson und Magret standen als Zeugen daneben. Die Königin unterschrieb mit ihrem Namen und pustete dann auf das Blatt, damit die Tinte schneller trocknete, danach rollte sie es zusammen, verschloss es mit einem Band und reichte es Jemson.
    Königin Marianna stand auf dem Balkon ihres Schlafzimmers im Königinnenturm und blickte über die Stadt. Ihre Hände ruhten auf der Steinbalustrade. Die Stadt glitzerte unter einer dünnen Schneedecke, durch die sich bereits die ersten Frühlingszwiebeln schoben. Es war später Nachmittag, und die tiefstehende Sonne warf lange blaue Schatten, wo immer sie eine Lücke zwischen den Gebäuden fand.
    Jenseits des Schlossgeländes spielten Kinder im Park, und Marianna sah, wie sie sich in ihren bunten Kleidern drehten, hinfielen und wieder aufstanden, hörte den Klang ihres Gelächters in der milder werdenden Frühlingsluft. Marianna lächelte bei diesem Anblick und schob ihre Hände unter die Achseln, um sie zu wärmen.
    Dann hörte die Königin ein anderes Geräusch, diesmal eines, das hinter ihr erklang, und sie machte Anstalten, sich umzudrehen.
    »Mutter!« Raisa schoss abrupt hoch und war schlagartig hellwach. Ihr Herz flatterte schmerzhaft. Sie hatte den ganzen Tag durchgeschlafen, die Dämmerung hatte schon fast eingesetzt. Das Feuer war längst ausgegangen, und das bisschen Wärme, das die Frühlingssonne ihr beschert hatte, löste sich rasch auf. Gillens Pferd sah sie an und schnaubte Dampfwolken in die Luft.
    Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Schrei als Echo von den Gipfeln um sie herum widerhallen, von all den Gräbern der toten Königinnen. Zuerst klang es wie Mutter!, aber dann war es, als würde sich das Wort in Marianna! verwandeln, sich immer und immer wiederholend, bis es schließlich verklang.
    »Mutter«, sagte Raisa noch einmal, diesmal leiser. Dennoch hörten es die Berge. Erneut nahmen sie den Refrain auf. Marianna! Nur dass sie jetzt das gesamte Ahnengeschlecht der Königinnen aufzählten.
    Marianna ana’Lissa ana’Theraise ana’… und so weiter, die ganze Reihe zurück bis zu Hanalea. Die Namen hallten und schallten über die Berge wie das Läuten einer riesigen Glocke. Seit Hanalea die Große Zerstörung geheilt hatte, hatte es zweiunddreißig Königinnen gegeben. Und die Berge nannten jede einzelne.
    Raisa hatte sich in diesen Bergen immer wohlbehütet und sicher gefühlt, verbunden mit der Zukunft wie mit der Vergangenheit. Jetzt aber hatte sie das Gefühl, ein herabbaumelndes, loses Stück Seil zu sein, während sich das ganze sichere Netz um sie herum mehr und mehr aufzulösen drohte. Oder wie ein Schössling, der aus der Erde gerissen und zum Sterben zurückgelassen worden war. Sie schloss die Augen und schickte ein stummes Gebet nach oben.
    Als sie die Augen wieder öffnete, war sie von Wölfen umringt, die größer waren als alle, die sie je zuvor gesehen hatte. Graue Wölfe in allen möglichen Schattierungen. Ihre Augen waren blau und grün und grau und golden und schwarz.
    »Verschwindet«, flüsterte

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