Der Wolfsthron: Roman
sie und hob abwehrend die Hände. »Lasst mich in Ruhe.«
Eine Wölfin trottete langsam näher, bewegte sich leichtfüßig über den Schnee und betrachtete Raisa mit weisen, grauen Augen. Die anderen wichen zur Seite und machten für sie Platz.
»Sei gegrüßt, Raisa ana ’Marianna«, sagte die Wölfin. »Wir sind deine Schwestern, die Grauwolf-Königinnen.« Die Wölfin setzte sich hin, der bauschige Schwanz schmiegte sich um ihre Pfoten. »Ist es nicht eine Schande, dass wir nur durch den Schmerz, der mit dem Verlust unserer Mütter verbunden ist, Königinnen werden?«, fragte sie und legte den Kopf leicht schief.
»Ich muss mich ausruhen«, sagte Raisa. »Ich muss noch einen weiten Weg zurücklegen.« Sie zog die Knie hoch und schlang die Arme darum. »Ich hatte schon genug Träume für heute.«
»Und wir als Königinnen gebären unsere Nachfolgerinnen nur um den Schmerz unseres eigenen Todes«, fuhr eine grünäugige Wölfin fort, als hätte Raisa gar nichts gesagt. »Aber das Wissen, dass unsere Töchter uns folgen, macht es uns leichter.«
Die Wölfin mit den grauen Augen stupste Raisas Knie mit der Schnauze an. »Du bist nicht allein. Wenn du dich konzentrierst, kannst du die Verbindung durch das gesamte Grauwolf-Geschlecht hindurch spüren.«
»Wir dienen den herrschenden Königinnen immer nur dann als Beraterinnen«, sagte die grünäugige Wölfin, »wenn die Situation gefährlich ist. So wie jetzt.«
»Nun, ich sehe euch aber schon seit Monaten«, erwiderte Raisa und zitterte. »Wieso habt ihr bisher noch nie mit mir gesprochen?«
»Deine Mutter konnte uns nicht mehr hören«, sagte die Wölfin mit den grünen Augen. »Deshalb sind wir zu dir gekommen.«
»Althea«, warf die grauäugige Wölfin tadelnd ein.
»Nun, es stimmt doch«, sagte Althea. »Raisa kann das genauso gut auch wissen. Dieser Bayar hat Königin Mariannas Ohren verstopft, damit sie unsere Warnungen nicht mehr hören kann. Und jetzt muss sie den Preis dafür bezahlen.«
»Wieso sollte ich euch zuhören?«, fragte Raisa. »Ihr könntet Halluzinationen sein oder von meinen Feinden beschworene Dämonen. Oder ein schlechter Traum«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu.
»Du musst uns zuhören«, sagte die grauäugige Wölfin. »Du hast viele Feinde. Wenn du nichts tust, werden sie das Grauwolf-Geschlecht vernichten.«
»Deshalb bin ich auf dem Weg nach Hause«, erklärte Raisa. »Um meiner Mutter zu helfen. Der Königin. Wir haben einander viel zu lange nicht gesprochen.«
Der Wind bewegte die Baumkronen und flüsterte Marianna.
Die Wölfe rührten sich ebenfalls, sie sahen einander an und schnappten und jaulten.
»Das Geschlecht hängt an einem seidenen Faden«, sagte die grauäugige Wölfin. »Und dieser Faden bist du, Raisa ana’Marianna.«
Das entsprach so sehr ihren eigenen Gedanken, dass Raisa erneut zitterte.
»Meine Mutter und ich sind in Gefahr«, sagte Raisa. »Ist es das, was ihr mir sagen wollt?«
»Hüte dich vor jemandem, der vorgibt, ein Freund zu sein«, sagte Althea. »Suche in deiner nächsten Umgebung nach deinen Feinden.«
»Wieso müssen Prophezeiungen nur immer so verdammt kryptisch sein?«, fragte Raisa. »Wieso könnt ihr mir nicht einfach sagen, was Sache ist?«
Die Wölfinnen erhoben sich wie auf ein gemeinsames Signal.
»Dies ist die Nachricht, die wir dir überbringen wollen, Raisa ana ’Marianna, Nachfolgerin der Königinnen der Sieben Reiche«, sagte Althea. »Du musst um den Thron kämpfen. Du musst für das Grauwolf-Geschlecht kämpfen. Du darfst dich nicht verführen lassen wie Marianna. Die Zukunft des Reiches steht auf des Messers Schneide.« Sie verbeugte sich, wandte sich ab und trottete davon.
Die anderen folgten ihr, bis auf die grauäugige Wölfin. Sie neigte den Kopf und betrachtete Raisa nachdenklich, als würde sie sie abschätzen. Raisa hatte das Gefühl, Sympathie in den Wolfsaugen zu lesen.
»Raisa ana ’Marianna, meine Schwestern sprechen die Wahrheit, aber diese Wahrheit ist unvollständig. Begeh nicht den gleichen Fehler wie ich. Wähle deine Freunde sorgfältig aus. Vergiss niemals, dass zwei miteinander verschlungene Fäden stärker sind als ein doppelt so dicker.«
»Meine Mutter und ich«, flüsterte Raisa. »Ist es das, was du meinst?«
Die Wölfin warf einen Blick über die Schulter, als machte sie sich Sorgen, dass ihre Schwestern zuhören könnten. Dann wandte sie sich wieder Raisa zu. »Merk dir, dass du manchmal die Pflicht über die Liebe stellen musst. Vergiss
Weitere Kostenlose Bücher