Der Wolfstrank
nichts Äußerliches, da hast du schon Recht.«
»Dann kannst du doch zufrieden sein!«
Marlene beugte sich vor und schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht, Kind. Ich kann einfach nicht zufrieden sein, tut mir Leid. Nicht nach dem, was du erlebt hast. Das ist einfach unmöglich für mich. Das kann ich nicht nachvollziehen.«
»Aber ich.« Lucy hatte geflüstert und legte jetzt den Kopf zurück. »Ich kann es nachvollziehen, weil es eben wunderbar gewesen ist. Der Wolf hat mir nichts getan. Er ist ein Freund, und ich bin nicht das Rotkäppchen aus dem Märchen.«
»Was bist du dann?«
»Ich weiß es noch nicht.«
Marlene King schwieg. Sie suchte noch nach Worten, und dabei schaute sie ihre Enkelin sehr genau an. Der Wolf konnte Spuren hinterlassen haben. Er war mit ihr in den Wald gegangen, und die schrecklichsten Dinge kamen ihr dabei in den Sinn, aber auch sie hatten keine Spuren bei Lucy hinterlassen. Sie sah keine Verletzungen, keine Kratzer irgendwelcher Pfoten, und sie musste zugeben, dass vor ihr ein sogar glückliches Kind saß, was ihr nicht in den Kopf wollte.
Lucy lächelte wie jemand, der sich an etwas Schönes erinnert. Dann griff sie zum Glas und trank auch den Rest aus. Danach nickte sie entschlossen, stellte das Glas wieder zurück und sagte mit leiser Stimme: »Ich werde jetzt nach oben in mein Zimmer gehen und mich wieder hinlegen.«
Das überraschte Marlene. »Du willst tatsächlich schlafen, Kind?«
»Ja, das möchte ich.«
»Kannst du das denn?«
»Warum denn nicht.«
Marlene rang die Hände. »Himmel, was du alles erlebt hast. Das ist doch unmöglich.«
»Bitte, Großmutter, was habe ich denn erlebt?«
»Das musst du doch wissen.«
»Eben.«
»Und?«, fragte Marlene, »du willst es mir nicht erzählen?«
Lucy schüttelte den Kopf.
»Warum denn nicht? Wir... wir... ich meine, es gab zwischen uns immer ein Verhältnis des Vertrauens. Soll das denn jetzt einfach gebrochen sein? So urplötzlich?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber ich werde darüber nachdenken. Jetzt bin ich müde.« Lucy stand auf und lächelte breit. »Und ich weiß, dass ich sehr gut und auch sehr tief schlafen werde, denn ich habe einen Beschützer gefunden.«
Das war zuviel für Marlene. »Du nennst diese Bestie einen Beschützer, Kind?«
»Sie ist keine Bestie, Großmutter. Der Wolf ist ein Freund. Der beste, den ich bisher hatte.« Nach dieser Antwort hielt es sie nicht mehr in der Küche. Ohne ein weiteres Wort lief sie aus dem Raum und die Treppe hoch, wo ihre Schritte verhallten.
Marlene blieb auf dem Stuhl sitzen und schaute ins Leere. Es war schrecklich für sie, denn in dieser Sekunde traf sie die Erkenntnis, dass sie ihre Enkelin verloren hatte, und das war für sie einfach unbegreiflich. All diese Jahre waren dahin. Die Freude, die sie miteinander gehabt hatten, aber auch die kleinen Streitigkeiten, die ebenfalls zum Leben gehörten, all das sollte es plötzlich nicht mehr geben, weil das Kind einen anderen und auch einen gefährlichen Weg gegangen war.
Oben schlug Lucy die Tür ihres Zimmers heftig zu, Marlene schrak zusammen. Dieser Krach hatte so etwas Endgültiges an sich. Unwillkürlich begann sie zu zittern.
Jetzt war sie wieder allein. Noch wie vor kurzem, als Lucy im Wald verschwunden war. Seltsamerweise fühlte sie sich nicht besser, obwohl sich Lucy jetzt im Haus aufhielt. Für Marlene stand fest, dass etwas mit ihr passiert war. Nicht äußerlich, da hatte sie völlig normal ausgesehen, aber es hatte in ihrem Innern eine Veränderung gegeben. Ihre Seele war nicht mehr die Gleiche. Sie dachte jetzt anders als früher. Sie war... Marlene dachte nach. War sie erwachsen geworden?
Nein, das stimmte auch nicht. Ihre Enkelin hatte eine Veränderung durchlebt. Für Lucy selbst war es ein Höhepunkt, für ihre Großmutter genau das Gegenteil.
Sie dachte darüber nach, ob sie ihren Sohn anrufen und ihm und seiner Frau von der Veränderung berichten sollte. Nein, noch nicht. Das Problem hätte sie den beiden am Telefon nicht näherbringen können. Das lag tiefer, und sie war erwachsen und alt genug, um selbst eine Lösung zu finden.
Mit beiden Handflächen wischte sie durch ihr Gesicht und spürte den kalten Schweiß, den sie von der Haut abstreifte. Marlene wusste selbst nicht, wie sie sich fühlte. Ausgeklammert, abseits stehend. Im Wald war mit ihrer Enkelin etwas geschehen, und das hing auch mit dem verdammten Wolf zusammen, auf dessen Seite sie stand. Schrecklich für Marlene
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