Der Wolfstrank
ihren Lippen.
Sie schien wunderschöne Träume zu haben. Sie war eingetaucht in eine andere Welt, von der Marlene keine Ahnung hatte. Was hier ablief, hatte brutal einen Schnitt in ihrem Leben hinterlassen. Es war für sie unverständlich.
Sie fasste den Arm ihrer Enkelin nicht mehr an, aber sie schaute noch einmal hin. Auch wenn sie ihn nur anblickte, war der dunkle Flaum zu sehen, der sich deutlich von der Haut abhob. Da war tatsächlich etwas gewachsen oder gesprossen wie bei einem Tier. Vom Handrücken bis hin zum Oberarm zog sich der Flaum hin, aber hatte noch nicht das Gesicht erreicht. Es beruhigte Marlene irgendwie, obwohl sie insgeheim davon ausging, dass die Verwandlung noch nicht ganz beendet war.
Was soll ich hm?
Marlene King stellte sich die Frage mehrere Male, ohne eine Antwort zu finden. Nur etwas stand für sie fest, und das war ihre eigene Hilflosigkeit. Ja, sie stand hilflos vor diesem Problem. Sie, die Großmutter, die immer wieder Rat gewusst hatte, musste in diesem Fall einfach passen.
Es fiel ihr verdammt schwer, sich dies einzugestehen, aber hier war etwas geschehen, für das sie keine Erklärung hatte. Es überstieg einfach ihr Begriffsvermögen.
Sie wollte nicht länger bei Lucy bleiben. Sie schenkte ihrer Enkelin noch einen abschiednehmenden Blick, presste die Lippen zusammen und kämpfte mit den Tränen. Es lag nicht nur am Zustand des Mädchens, es lag auch daran, dass ihr das Handeln einfach aus den Händen genommen war. Hier gaben andere den Ton an, und sie stand einfach nur daneben und schaute zu.
Marlene King verließ das Zimmer und ging wieder zurück in ihre Küche. Es war schon komisch, aber in diesem Raum fühlte sie sich am wohlsten. Sie setzte sich an den Tisch, schaute aus dem Fenster und sah noch immer den Vollmond am Himmel. Ein heller Kreis malte sich dort ab, der wie in die Dunkelheit geschnitten wirkte. Marlene schauderte, als sie das Licht sah und begriff, dass der Mond etwas damit zu tun haben konnte.
Als sie sich einen weiteren Drink einschenkte, verschüttete sie einen Teil, so sehr zitterten ihre Hände. Sie redete sich ein, diesen scharf-süßen Honigschnaps zu brauchen, deshalb kippte sie das Zeug mit einem Ruck in die Kehle. Danach schüttelte sie sich und rang etwas nach Luft.
Wie sollte es weitergehen?
Diese Frage stand vor ihr. Sie war auch nicht wegzudiskutieren. Es entsprach der Logik. Die Welt würde nicht aufhören, sich zu drehen, und überall auf ihr würde alles wieder normal ablaufen. Auch wenn die Unnormalität Einzug gefunden hatte.
Marlene King gab sich selbst gegenüber zu, keine Expertin zu sein. Andererseits war sie auch nicht so naiv, um nicht gewisse Zusammenhänge zu erkennen. Der genossene Alkohol hatte ihr Gehirn auch nicht benebelt; sondern auf eine gewisse Art und Weise frei gemacht für bestimmte Überlegungen und Folgerungen.
Sie sah ihre Enkelin als Mensch, und sie sah im Gegensatz dazu den Wolf.
Mensch und Wolf kamen normalerweise nicht zusammen, nicht so intensiv. Schon stellte sie sich die nächste Frage, und die sah sie nun glasklar vor sich.
War dieser Wolf eigentlich ein normaler Wolf gewesen, oder hatte er etwas anderes an sich gehabt? Sie schaffte es nicht, sich anders auszudrücken, aber dieser Gedankengang war für sie so etwas wie eine Brücke, über die sie steigen musste. Es gab etwas zwischen ihrer Enkelin und dem Wolf. Da existierte eine Verbindung, ein Band, denn sie hatte ihn wie einen lang ersehnten Freund begrüßt. Demnach musste sie schon vorher Kontakt mit ihm aufgenommen haben, und darüber wollte Marlene nachdenken.
Schon Sekunden später verwarf sie den Gedanken wieder. Fest setzte sich in ihrem Kopf nur etwas anderes. Der Kontakt zwischen Mensch und Tier war sehr intensiv gewesen, sonst hätte es nicht zu dieser Verwandlung kommen können.
Als ihre Gedanken diesen Punkt erreicht hatten, fiel ihr etwas ein. Marlene sah es noch nicht als einzig existierende Lösung an, aber der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Sie erinnerte sich an frühere Jahre, als sie alles Mögliche gelesen hatte. Auch gewisse Filme waren ihr nicht fremd gewesen, und dann erschien der Begriff Werwolf immer deutlicher in ihren Überlegungen.
Ja, genau das konnte es gewesen sein. Ihre Enkelin hatte keinen Kontakt zu einem normalen Wolf gehabt, sondern zu einem Werwolf, der irgendetwas mit ihr angestellt hatte.
»Verrückt«, flüsterte sie vor sich hin und schenkte einen weiteren Drink nach. »Das ist doch Wahnsinn. Es gibt
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