Der Wolfstrank
keine Werwölfe.« Außerdem verwandelte sich ein Mensch in einen Werwolf, wenn er von der Bestie gebissen wurde, und das war bei ihrer Enkelin nicht der Fall gewesen. Zumindest hatte sie keine Wunde entdeckt.
Trotzdem wiesen alle Anzeichen auf eben diese Bestie hin. Der Gedanke daran sorgte für ein Kribbeln auf ihrem Körper. Sie zog die Schultern hoch und merkte, wie ihr kalt wurde. Ein junges Mädchen als Werwölfin unter ihrem Dach zu wissen, das war mehr, als sie verkraften konnte.
»Gott, was mache ich nur?«
Ihr kam sogar der Gedanke an Flucht in den Sinn. Sie wollte so schnell wie möglich das Haus verlassen und sich irgendwo verstecken, doch auch das hatte keinen Sinn. Man konnte seinem Schicksal nicht davonlaufen.
Mit einer müden Bewegung strich Marlene King ihre grauen Haare zurück. Sie starrte ins Leere. Plötzlich waren die normalen Gedanken abgerissen. Sie musste sie erst wiederfinden und war sich dann darüber im Klaren, dass es so einfach nicht weiterging. Sie konnte die Dinge nicht laufen lassen, sie musste etwas unternehmen. Sie brauchte einfach fremde Hilfe. Und sie brauchte Helfer, die sie nicht auslachten, sondern denen sie vertrauen konnte.
Wer kam in Frage?
Marlene quälte sich bei diesen Gedanken. Sie ließ zahlreiche Menschen, die sie kannte, vor ihrem geistigen Auge Revue passieren, doch eine Lösung fiel ihr nicht ein. Zu stark waren eben die Gegensätze zwischen der Realität und der Lächerlichkeit.
Die Polizei!
Marlene sah es als die einfachste Lösung an. Auf der anderen Seite war es auch eine komplizierte. Sie hörte schon das Lachen der Beamten oder stellte sich ihre mitleidigen Blicke vor, wenn sie mit ihren Erzählungen anfing.
Die Polizei schon, aber da musste es eine bestimmte geben. Nicht den kleinen Revierposten, sondern weiter nach oben gehen. Ihr fiel nur Scotland Yard ein.
Das war nicht schlecht. Marlene fühlte sich bei diesem Gedanken besser. Sie konnte sogar lächeln, denn sie kannte jemanden, der beim Yard beschäftigt war.
Der junge Mann war nicht weit von ihr entfernt aufgewachsen. Er musste jetzt um die 30 sein. Im Ort hatte sie ihn ein paar Mal getroffen, und dann hatten sie sich unterhalten.
Er war stets sehr freundlich gewesen, und sie hoffte, dass er auch dienstlich nicht anders war.
Ihm wollte sie Bescheid geben. Er wusste vielleicht Rat. Dabei war Marlene nicht bekannt, in welch einer Abteilung des Yard er arbeitete, aber er kannte möglicherweise die richtigen Leute, und das war für sie sehr wichtig.
Am liebsten hätte sie ihn jetzt mitten in der Nacht angerufen, so sehr drängte es. Nur wollte sie das auch nicht. Man hätte sie für hysterisch halten können.
Da war es schon besser, wenn sie bis zum frühen Morgen wartete und gemeinsam mit ihrer Enkelin unter einem Dach blieb. Schlaf würde sie kaum finden. Marlene wollte sich auch nicht in ihr Bett legen. Sie blieb lieber sitzen und würde auch in der Küche irgendwann in einen leichten Schlummer fallen.
Das passierte sogar. Da fiel sie nach vom und berührte mit der Stirn die Tischplatte. Aber sie schreckte auch wieder hoch und wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte.
Ein typisches Geräusch hatte sie geweckt. Das harte Zuschlagen einer Tür.
Im ersten Moment war sie durcheinander. Erst als sich Marlene die Augen gerieben hatte, schaffte sie es wieder, klarer zu denken. Ins Haus war niemand gekommen, es war höchstens jemand gegangen. Da dachte sie sofort an ihre Enkelin.
Der Blick war noch immer auf das Fenster gerichtet. Der Mond stand am Himmel, aber der Schein rund um den Eingang stammte von der Außenleuchte.
»Nein!«, flüsterte Marlene plötzlich und drückte sich in die Höhe. »Das kann nicht wahr sein.«
Sie stand auf. Der Mund schloss sich nicht mehr. Sie spürte den kalten Schauer auf ihrem Rücken. Sogar im Sitzen erwischte sie der Schwindel, und aus dem offenen Mund drangen leise Stöhnlaute.
Ihre Enkelin hatte das Haus verlassen. Sie ging am Rand des Lichtscheins entlang auf den Wald zu. Sekunden später schon hatte die Dunkelheit sie verschluckt.
Und aus weiter Ferne drang ein unheimlich klingendes Heulen an die Ohren der Frau.
Der Wolf rief, und Lucy gehorchte...
***
Wir hatten einen Kollegen gebeten, uns bei Anbruch der Dämmerung zu wecken, und daran hatte sich der Mann auch gehalten, denn jemand rüttelte mich an der Schulter.
Ich war tatsächlich in einen tiefen Schlaf gefallen, aus dem ich nur mühsam hervorkroch.
»Kaffee, Sir?«
Besonders das
Weitere Kostenlose Bücher