Der Wolfstrank
seine Unschuld verloren. Jetzt diente er nur als Deckung und Schutz für etwas unheimliches Böses, das sie sich nicht erklären konnte, obwohl sie es mit eigenen Augen gesehen hatte.
Ein Wolf!
Kein normaler Wolf.
Auch kein Wolf aus dem Märchen, denn ihn gab es wirklich. Wenn sie an ihn dachte, schauderte sie zusammen. Besonders deshalb, weil ihr die Augen nicht aus dem Sinn wollten. Derartige Augen hatte sie bei einem Tier noch nie zuvor gesehen. Sie schienen mit dem kalten Licht der Hölle gefüllt zu sein, falls es dort so etwas gab und nicht nur das alles zerstörende Feuer.
Marlene ärgerte sich darüber, dass sie schon wieder in Vergleichen dachte. Das Nachdenken brachte ihr nicht viel, sie musste das Handeln selbst in die Hände nehmen.
Dennis Fenton wusste Bescheid. Nur konnte er auch nicht hexen. Es würde seine Zeit dauern, bis er etwas in Bewegung gesetzt hatte, und in dieser Spanne wollte sie nicht untätig im Haus sitzen bleiben, obwohl Dennis sie darum gebeten hatte.
Sie entschied sich dagegen. Untätigkeit war schlimm. Sie würde an ihrer Seele kratzen und die Vorwürfe noch verstärken. Deshalb entschloss sich Marlene King, das Haus zu verlassen und in den Wald zu gehen, um ihre Enkelin zu suchen.
Sie fragte sich erst gar nicht danach, ob sie möglicherweise Angst verspürte. Das würde wahrscheinlich der Fall sein. Wäre es um sie gegangen, hätte sie auch anders reagiert. Aber hier ging es einzig und allein um ihre Enkelin, die sie vom Babyalter an hatte aufwachsen sehen. Lucy war ihr so vertraut wie das eigene Kind. Die Großmutter konnte ihre Enkelin einfach nicht im Stich lassen.
Gegen die Kopfschmerzen hatte sie zwei Tabletten geschluckt. Zwar waren sie noch nicht ganz verschwunden, aber sie hielten sich in Grenzen, und Marlene würde sie ertragen können.
Es war nicht besonders warm. Für Mai eigentlich zu kalt. Aber es regnete nicht, und das sah sie nach all den letzten Schlechtwettertagen als einen Vorteil an.
Sie hatte zwei Rühreier gegessen, jedoch die Hälfte davon stehen lassen. Sie räumte die Pfanne auch nicht in die Spüle und ließ alles so stehen und liegen.
Nur die trittsicheren und festen Schuhe streifte sie über, denn im Wald gab es keine normalen Wege oder nur wenige, aber die würde sie kaum gehen. Zuletzt holte sie noch den leichten Mantel von der Garderobe, zog ihn an und fühlte sich gerüstet. Eine Waffe gab es nicht im Haus, dafür nahm sie eine Stableuchte mit. Im Wald waren auch tagsüber zu viele Ecken zu dunkel.
So gerüstet verließ sie das Haus durch den Hintereingang und bewegte sich quer durch den Garten. Sie hatte das Ende des Grundstücks noch nicht erreicht, als sie das dünne Bimmeln des Telefons innerhalb des Hauses hörte. Es war noch ein altes Gerät, das schrillte und die Frau zum Stehenbleiben zwang.
Zurücklaufen und abheben oder das Klingeln ignorieren?
Marlene King steckte in einer Zwickmühle. Dennis Fenton hatte ihr geraten, im Haus zu bleiben, um ihr per Telefon Bescheid zu geben, ob er etwas erreicht hatte. Vielleicht aber hatte er sie auch nur dazu zwingen wollen, sich nach seinen Vorstellungen zu verhalten. Dagegen war Marlene. So einfach ließ sie sich nichts vorschreiben. Erst recht nicht in ihrer Situation. Sie hatte einfach das Gefühl, dass sie von ihrer Enkelin gebraucht wurde.
Genau aus diesem Grund ging sie nicht mehr zurück ins Haus. Sie ließ den Apparat klingeln und ging weiter, auch wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte.
Das endete am Gartenzaun, der ihr Grundstück an der Rückseite umgab. Er war nichts anderes als ein grünes Drahtgeflecht und kaum zu sehen. An verschiedenen Stellen war er auch herunter getreten worden, und diesen Weg nahm Marlene ebenfalls.
Der Wald war näher gerückt. Er hatte immer zu ihr und ihrem Leben gehört. Zum ersten Mal allerdings kam er ihr bedrohlich vor, obwohl er noch nicht so dicht war wie im Hochsommer.
Im Mai hatten die Bäume bereits ihr dichtes Blattwerk bekommen. Wenn sie den Wald betreten hatte, würde sie durch eine Schattenwelt gehen.
Der Ort Common lag weit hinter ihr. Wenn sie sich drehte, sah Marlene die Umrisse der Häuser. Zwischen ihnen befanden sich immer wieder größere Lücken, denn von einer dichten Besiedlung konnte nicht gesprochen werden.
Sie und ihr Mann hatten das kleine Haus damals bewusst außerhalb gebaut. Sie waren zwar keine Einsiedler, aber sie wollten auch nicht unbedingt gestört werden, und ein Kontakt mit der Dorfgemeinschaft stand sowieso
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