Der Wolfstrank
nicht auf ihrem Programm. Zumindest kein zu intensiver. Außerdem hatten sie damit gerechnet, dass sich der kleine Ort im Laufe der Zeit noch ausdehnen würde, was nicht geschehen war. Fremde, die irgendwelche Wochenendhäuser errichteten, hatten Common noch nicht entdeckt, und so war das Dorf wenig gewachsen.
Beim letzten Blick zurück war Marlene schon erschauert. Es war ihr beinahe wie ein Abschied vorgekommen und sie musste sogar einige Male schlucken.
Nein, sich nur nicht beirren lassen. Das durchziehen, was sie sich vorgenommen hatte. Durch einen tiefen Atemzug versuchte sie, sich von diesen weniger guten Gefühlen zu befreien, und gab sich dann den inneren Ruck, der nötig war.
Sie ging weiter. Es gab hier keinen offiziellen Weg. Die Strecke zwischen dem Ende des Grundstücks und dem Waldrand bezeichnete sie als Niemandsland.
Marlene King kam sich vor wie ein kleines Mädchen, das über eine mit Blumen bewachsene Wiese wanderte, denn um sie herum blühten die weißen Kränze der Gänseblumen. Sie wetteiferten mit dem satten Gelb von Löwenzahn, der sich bald in die von Kindern so beliebten Pusteblumen verwandeln würde.
Aber das schöne Bild fand ein Ende am Waldrand. Dort war es dunkel. Da ging das Grün beinahe schon in ein dunkles Grau über. Unterholz bildete die erste Grenze. Dahinter wuchsen Laub- und Nadelbäume wie unterschiedliche hohe Türme in die Höhe.
Marlene dachte darüber nach, wann sie den Wald zum letzten Mal betreten hatte. Sie kam zu keinem Resultat. Es war einfach zu lange schon her. In den letzten beiden Jahren wohl nicht. Deshalb kamen ihr die Bäume und das Strauchwerk noch höher vor. Hier war alles sehr stark gewachsen.
Ihre forschen Schritte hatten sich verlangsamt, als sie in die Nähe des Waldrands geriet. Sie blieb für eine Weile stehen. Dabei achtete sie auf sich und die Umgebung.
Ihr Herz klopfte schneller. Klar, auch sie konnte die Aufregung nicht unterdrücken. Auch dachte sie an ihre Enkelin. Dieser Wald mit seiner Dunkelheit hatte das Kind regelrecht verschluckt. Wenn sie daran dachte, dass sich dort ein gefährlicher Wolf aufhielt, wurde es ihr unheimlich. Sie beleckte ihre trockenen Lippen und dachte wieder an das Märchen Rotkäppchen. Da hatte das Kind überlebt. Die Großmutter war von der Bestie umgebracht worden.
Hier war sie die Großmutter, aber sie wollte auf keinen Fall sterben.
Hart musste sie schlucken. Der Gedanke, im Wald ihr Leben auszuhauchen, ließ sie wieder an ihrem Plan zweifeln. Dann dachte sie an Lucy und daran, was ihr das Kind bedeutete. Eigentlich alles. Es war der Sonnenschein in ihrem Leben. Sie fühlte sich für Lucy verantwortlich, so lange die Eltern im Ausland lebten, und genau dieser Verantwortung wollte sie auch nachkommen.
Also kein Zurück!
Nach vom denken, nach vorn gehen. Als sie noch einmal tief Luft holte, saugte sie bereits den würzigkühlen Duft ein, den der Waldrand abstrahlte.
Dann ging sie.
Sie trat in das Unterholz hinein und ließ sich auch von den hohen Zweigen des Buschwerks nicht irritieren. Mit beiden Händen räumte sie die Hindernisse zur Seite.
Sie war erst ein paar Schritte in den Wald hineingegangen und kam sich schon vor wie in einer anderen Welt. Hier hatte sich alles verändert. Um sie herum breitete sich der würzige Geruch aus. Es roch wirklich noch nach Frühling. Nichts war vertrocknet. Der Boden hatte die Feuchtigkeit noch nicht abgegeben, denn die Sonne besaß noch nicht die Kraft, um ihn zu erreichen.
Deshalb ging sie über den weichen Untergrund tiefer in dieses unbekannte Gebiet hinein, das sie umschlang wie mit unzähligen Armen. Ein normales Laufen war nicht möglich. Das Vorangehen glich schon einem kleinen Kampf.
Immer wieder musste sie sich ducken, um nicht gegen harte Äste zu laufen, die recht niedrig wuchsen. Es gab nicht nur Nadelhölzer. Auch Laubbäume hatten sich ausbreiten können und bildeten ein breites Feld. Der Boden war mit Gräsern und Flechten bewachsen, doch am meisten hatte er das alte Laub aufgenommen, das sich als glänzende Schicht auf dem Untergrund ausgebreitet hatte.
Auch im Wald gibt es Wege, dachte sie. Auch Lichtungen und kleine freie Flächen, man muss sie nur finden. So machte sich die Frau Mut, als sie über den unebenen Boden schritt.
Ob sich ein Förster und dessen Mitarbeiter um den Wald kümmerten, wusste sie nicht. Es sah nicht so aus. Die letzten Orkane hatten auch hier an einigen Stellen Spuren hinterlassen. Bäume waren geknickt worden und lagen
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