Der Wolfstrank
vergangenen Jahre. Überall glänzte noch die Feuchtigkeit, und an manchen Stellen stiegen sogar kleine Nebelschwaden in die Höhe.
Von einer Hütte sah sie nichts. Auch ihre Enkelin hatte sich noch nicht gezeigt. Allmählich machte sich Marlene mit dem Gedanken vertraut, dass sie einen falschen Weg gewählt hatte. Sie war einfach ihrem Gefühl gefolgt und hatte nicht überlegt, ob das auch korrekt gewesen war.
Bisher hatte sich ihr der Wald nicht offenbart und auch keine Antwort gegeben. Aber Marlene wollte eine haben. Ein Zeichen, dass sie den beschwerlichen Weg nicht grundlos gegangen war und wenn es nur das Heulen eines Wolfes war.
Sie ging noch ein paar Schritte weiter und blieb an einer etwas helleren Stelle stehen.
Okay, dachte sie. Wenn ihr euch nicht meldet, dann muss ich es eben tun.
Es war nicht leicht für sie, sich dazu zu überwinden. Noch einmal drehte sich Marlene auf der Stelle. Sie nahm all ihren Mut zusammen und versuchte, das innerliche Zittern zu unterdrücken, dann aber brach es aus ihr hervor.
»Lucy...! Lucy...!«
Die Echos hallten durch die Stille. Sie lauschte ihrer eigenen Stimme nach, die irgendwie immer zurückkehrte, aber sie gab nicht auf und lief weiter.
»Lucy... bitte... Lucy... melde dich...!«
Das letzte Wort endete zuerst in einem Hustenanfall, dann folgte das Krächzen, und Marlene war wieder still, weil sie auf die Antwort lauerte.
Ihre Enkelin brauchte nicht mal in der Nähe zu sein. Der Ruf war ihrer Meinung nach durch den gesamten Wald gehallt. Der hatte einfach gehört werden müssen.
Sie erhielt keine Antwort.
Lucy war still. Auch der Wolf heulte nicht. Die Umgebung schien sich über sie zu amüsieren, und Marlene ballte verzweifelt die Hände zu Fäusten.
Sollte alles umsonst gewesen sein?
Sie wusste es nicht, schloss die Augen und musste plötzlich gegen Tränen ankämpfen und zusätzlich gegen die Vorstellung, dass Lucy etwas Schreckliches passiert war. Dabei dachte sie nicht mal an ihren Tod, sondern an...
Ein Ruf unterbrach ihre Gedanken. Ob er fern oder nah war, wusste sie nicht, aber es war eine menschliche Stimme, die sie hörte.
»Marlene...«
Sie erstarrte. Schlagartig bildete sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper. Es war für sie ein positives Frösteln, denn jetzt wusste sie, dass ihr Gang in den Wald nicht umsonst gewesen war. Jemand hatte ihr geantwortet, und das war Lucy gewesen, daran gab es keinen Zweifel mehr.
Sie wartete darauf, dass sich der Ruf wiederholte. Zunächst mal passierte nichts, und nach einer Weile versuchte sie es erneut.
»Lucy...!«
Der Ruf glich mehr einem verzweifelten Schrei, und was sie nicht für möglich gehalten hatte, trat ein.
»Ich bin hier, Großmutter...«
Nein, nein!, schoss es Marlene durch den Kopf. Das ist einfach unmöglich. Lucy kann doch nicht... ja, sie war es. Sie hatte mit ihrer menschlichen Stimme geantwortet, und sie hatte auch nicht geheult wie ein Wolf.
Lucy war da! Lucy lebte. Die Sorgen und Ängste fielen plötzlich von Marlene ab, und trotzdem konnte sie nicht die Erleichterung spüren, die sie sich gewünscht hätte. Ein tiefes Gefühl erwischte sie als Warnung und teilte ihr mit, dass sie trotz allem sehr auf der Hut sein musste.
Aber sie ignorierte das Gefühl. Es musste einfach weitergehen, und so schrie sie: »Lucy, wo bist du? Bitte, zeig dich doch. Ich will dich sehen...«
Aber Lucy hielt sich zurück. Sie kam nicht, sondern gab eine andere Antwort. »Ich bin nicht weit von dir weg, Großmutter. Du musst einfach nur geradeaus gehen.«
»Und dann?«
»Wirst du mich bald sehen!«
»Gut, gut!«, rief sie hastig, »ich komme. Ich werde dich finden, und dann sehen wir weiter.«
Marlene King wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Sie dachte an den Wolf und wie gut Lucy sich mit ihm verstanden hatte. Zwar hatte sie ihn noch nicht heulen hören, aber sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass er sich in Lucy’s Nähe aufhielt. Einer wie er ließ sein Opfer bestimmt nicht aus den Augen. Er wollte nicht, dass es wegrannte.
Sie wusste sehr gut, wohin sie zu gehen hatte. Der Ruf war von vom erklungen, und diese Richtung schlug sie auch ein. Es war genau der Teil des Waldes, in dem die Natur sich am dichtesten ausgebreitet hatte. Hier wurden selbst die Gräser und Farne zu einem Hindernis. Hinzu kam der weiche, oft morastig wirkende Untergrund.
Es war die Welt der schweren Düfte, der Feuchtigkeit. Die Welt ohne Wege. Der märchenhafte Wald, in dem sich Hänsel und Gretel
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