Der Wolfstrank
schräg. Manche hatten den Boden erreicht, andere waren von ihren Brüdern abgefangen worden.
Eine blasse Sonne stand am Himmel. Sie schickte ihr Licht auch gegen den Wald, doch nur ein Teil der Helligkeit erreichte den Boden, um dort ein fleckiges Muster zu hinterlassen. Alles andere wurde unterwegs abgefangen und schwebte wie eine schwache Decke über dem Kopf der älteren Frau, die der Mut noch immer nicht verlassen hatte, denn sie suchte auch weiter hin ihren Weg. Sie hatte sich vorgenommen, den Wald einmal zu durchwandern und danach wieder in einer anderen Richtung den Rückweg anzutreten.
Erste Mückenschwärme tanzten über feuchte Stellen am Boden. Vögel flatterten durch das hohe Geäst. Der Wald besaß seine eigenen Gesetze. Sie hörte Geräusche, aber nichts, was ihr verdächtig vorgekommen wäre. Voller Zuversicht wartete sie darauf, eine menschliche Stimme zu hören. Auch wenn es nur ein Schrei war. Dann hätte sie zumindest die Gewissheit gehabt, dass ihre Enkelin noch am Leben war, aber kein menschlicher Laut erreichte ihre Ohren. Und auch auf das Heulen des Wolfes wartete sie vergeblich. Sie entdeckte auch keine Hütte, obwohl sie sich immer wieder umschaute. Marlene stellte nur fest, dass sie immer tiefer in den Wald hineindrang und von dessen Atmosphäre eingenommen wurde.
Sie war so ganz anders als die auf der Wiese. Hier herrschte die absolute Menschenleere vor. Sie fühlte sich als Störenfried. Je tiefer sie in den Wald eindrang, um so dichter wurde er. Die Bäume schienen näher an sie heranzutreten, und zum ersten Mal schoss der Begriff Urwald durch Marlenes Kopf.
Sie hatte es schon geahnt und sogar damit gerechnet, aber jetzt, nachdem sie eine Bodenmulde hochgeklettert war, erhielt sie die Bestätigung. An dieser Stelle ging es nicht mehr weiter. Eine Orkanbö hatte zwei mächtige Laubbäume geknickt und zu Boden geschleudert. Beim Fallen hatten die Bäume eine Schneise in die Umgebung gerissen. Sie lagen auf dem Boden und bildeten schon so etwas wie eine mächtige Barriere, die Marlene überklettern musste, um weiterzukommen.
Zunächst legte sie eine Pause ein. Es war nicht warm unter den Kronen der Bäume, aber die Lauferei war für sie anstrengend gewesen, und sie merkte, dass sich der Schweiß auf ihr Gesicht gelegt hatte. Um sie herum summten die Mücken. Es war eine recht feuchte Gegend. Die beiden Stämme der gefallenen Bäume waren auf ihrer Rinde von einer grünlichen Patina überzogen. Ein ebenfalls grünliches Dach breitete sich über ihren Köpfen aus. Es zeigte nur wenige Lücken. Da schien ihr der normale Himmel noch weiter entfernt zu sein als sonst.
Marlene King war nicht mehr die Jüngste. Das merkte sie jetzt. Die Pause hatte sie einfach einlegen müssen, und sie atmete die Luft sehr tief ein. Manchmal erwischte ein leichter Windzug ihr Gesicht. Er brachte auch die frischen Gerüche des Frühlings mit. Woran sie sich früher gefreut hätte, das ignorierte sie. Ihre Gedanken formierten sich wieder. Sie wurde jetzt nicht mehr abgelenkt und konnte sich dem eigentlichen Ziel widmen.
War der Wald eine Falle?
Noch hatte sie nichts davon bemerkt. Wenn ja, dann konnte er nur eine natürliche Falle sein, in der sich ihre Enkelin wohlfühlte oder dazu gezwungen worden war, sich wohlzufühlen.
Marlene hatte nie viel auf den sechsten Sinn oder ähnliches gegeben. In diesem Fall dachte sie schon anders. Sie kam sich vor wie von Gefahren umgeben, die sich nur nicht zeigten. Der Wald bot ihnen Deckung genug, und die beiden geknickten Bäume gaben ihr die Botschaft bekannt.
Bis hierher und nicht weiter!
Vielleicht wären andere Menschen auch umgekehrt und wieder gegangen. Zu denen gehörte Marlene nicht. Sie wollte es durchziehen. Die Sorge um ihr Enkelkind war einfach zu groß. Da hielten sie die beiden gefallenen Bäume auch nicht auf.
In ihrem Alter war sie schon etwas unbeweglicher geworden, und so fiel es ihr nicht leicht, die Bäume zu überklettern.
Sie suchte nach einer Lücke. Sie musste die Hindernisse zur Seite biegen oder auch brechen. Sie gab nicht auf, obwohl sie zwei Mal auf dem rutschigen Stamm ausrutschte, aber letztendlich hatte sie es geschafft und kletterte auf die andere Seite, wo der Boden noch weicher war und sie zunächst stehen blieb.
Wieder musste sie tief durchatmen. Die Luft roch auch hier sehr würzig. Besonders die Nadelbäume breiteten ihren Duft aus.
Der Untergrund war von hohen Gräsern und Farnen bedeckt. Sie wuchsen auf den Laubschichten der
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