Der Wolfstrank
verirrt hatten, bevor sie das Hexenhaus erreichten.
Was werde ich zu sehen bekommen?, dachte Marlene und kämpfte sich weiter vor.
Dann blieb sie stehen, weil sie etwas entdeckt hatte. Vor ihr war der Wald besonders dunkel geworden. Da schienen Bäume und Buschwerk von zwei Seiten aufeinander zugewachsen zu sein, um ein regelrechtes Dach zu bilden. Darunter fehlte das Licht fast völlig. Dort sah die Welt mehr schwarz als grün aus. Nur hin und wieder verteilte sich ein fleckiges Licht, das dicht über dem Boden schwebte oder wie Spinnweben in den Büschen festhing.
»Lucy?«
Sie rief nach ihrer Enkelin. Diesmal nicht so laut, sondern mehr fragend.
»Ja, du bist bald da, Großmutter.«
Marlene erschrak. Sie hatte zwar auf eine Antwort gehofft, dass sie aber so dicht in ihrer Umgebung abgegeben worden war, hatte sie nicht erwartet.
Leise stöhnte sie auf.
»Warte auf mich...«
»Ja, Lucy, ich warte...«
Vor ihr bewegte sich etwas. Ein Körper glitt durch die Dunkelheit, der teilweise das Deckenlicht verdeckte. Allerdings immer nur für einen kurzen Moment. Sehr schnell tauchte der Umriss wieder auf, und Marlene erkannte tatsächlich ihre Enkelin. Auch wenn sie das Kind noch nicht so sah, wie sie es sich gewünscht hätte, es war zu keiner Bestie geworden, und erst in diesem Moment fiel ihr der berühmte Stein vom Herzen.
Lucy blieb vor ihrer Großmutter stehen.
»Hi«, sagte sie, »ich wusste, dass du kommen würdest, um mich zu suchen, meine Liebe...«
Marlene King gab zunächst keine Antwort. Sie wunderte sich über ihr eigenes Verhalten. Normal wäre es gewesen, wenn sie Lucy in ihre Arme geschlossen hätte, aber das tat sie nicht. Sie blieb starr stehen. Sekundenlang flammte in ihr der Gedanke auf, es mit einer fremden Person zu tun zu haben.
Sie musste sich zusammenreißen, um zu lächeln und Lucy dabei anzusehen. Nein, das Kind hatte sich nicht verändert. Nur von der Kleidung her. Es trug nicht mehr seinen Bademantel, sondern hatte die blauen Jeans übergezogen und einen Pullover, dessen Ärmel bis zu den Handgelenken reichten. Die Füße steckten in weichen Turnschuhen, und Marlene musste tatsächlich überlegen, ob die Kleidungsstücke ihrer Enkelin überhaupt gehörten. Der Wald hatte seine Spuren hinterlassen. Auf dem Stoff des Pullovers klebten Blätter und kleinere Stücke von abgebrochenen Ästen.
»War es schlimm, Großmutter?«
Marlene schüttelte kurz den Kopf. »Was meinst du damit?«
»Der Weg durch den Wald.«
Sie winkte ab. »Es ging. Zwar ein wenig anstrengend, aber er hat sich gelohnt, denn ich habe dich gefunden.« Sie ließ ihren Blick an Lucy’s Körper, entlanggleiten. Sie konnte keine Auffälligkeiten feststellen und fragte: »Es geht dir wirklich gut, Kind?«
»Ja, natürlich.«
»Du bist nicht erschöpft?«
»Nein, warum denn?«
»Ach, nur so...« Marlene lächelte ins Leere. Noch immer hatte sie sich nicht getraut, ihre Enkelin in die Arme zu schließen. Lucy war ihr komischerweise fremd geworden. Nicht nur, weil sie verschmutzte Kleidung trug, es lag auch an ihrem Verhalten, das so gar keine Wärme ausstrahlte. Da hätte man auch eine Puppe vor sie hinstellen können, so kam ihr die eigene Enkelin vor.
»Hier ist es sehr schön, Großmutter...«
»Ach wirklich?«
»Ja, ich fühle mich wohl.« Lucy lachte und streckte dabei die Arme in die Höhe. »Ich habe gelernt, dass der Wald auch ein Freund sein kann. Ehrlich, das musst du mir glauben. Er ist wirklich zu einem wunderbaren Freund geworden.«
Das konnte Marlene schlecht nachvollziehen. Bisher war der Wolf auch nicht erwähnt worden, und Marlene traute sich nicht, davon anzufangen. Da gab es etwas, was sie zurückhielt.
»Aber du bist kein Tier, Kind...«
»He? Wie meinst du das?«
»Im Wald fühlen sich eigentlich nur Tiere wohl. Wenn du verstehst, was ich meine.«
Lucy fuhr durch ihre hellen, lockigen Haare, die etwas fettig und auch schmutzig geworden waren. »Sei mir nicht böse, Großmutter, so richtig verstehe ich das nicht.«
Marlene King atmete tief durch. Sie fühlte sich schon längst aus der normalen Welt herausgerissen. Was hier ablief, war nicht mehr das normale Leben, denn hier drängten sich Dinge zusammen, die sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht so erlebt hatte. Der Wald gehörte zwar zur normalen Welt, aber für sie war er auch zu einer Bühne geworden, die aus der richtigen Welt herausgezogen worden war. Ihre Hoffnung, dass alles in ihrem Sinne gut ausgehen würde, war gesunken.
»Das
Weitere Kostenlose Bücher