Der Wolkenatlas (German Edition)
furchtbar verbrannten Unterarm. ‹Mein Dok promoviert über feuerresistentes Körpergewebe.›
Ich wusste nicht einmal, was ein Deadland war. Wing~027 erklärte mir, dass Produktionszonen und Konsumenten aufgrund dieser verstrahlten oder toxischen Gebiete immer weiter zurückweichen mussten. Seine Schilderungen erschreckten mich, aber der Katastrophenschützer sah die Sache in einem anderen Licht. ‹Der Tag, an dem ganz Nea So Copros zum Deadland geworden ist›, sagte er, ‹wird der Tag der Duplikanten sein.›
Das klang abweichlerisch. Ich fragte ihn, warum ich diese Deadlands nicht aus dem Ford gesehen hatte, wenn sie so großflächig auf der Welt vorhanden waren.
Wing~027 machte den Sony aus und fragte mich, für wie groß ich die Welt hielte. ‹Ich weiß nicht genau›, antwortete ich, ‹aber da ich den weiten Weg vom Chongmyo Plaza bis zu diesem Berg gefahren bin, muss ich wohl das meiste gesehen haben.›
Der Riese bat mich, ihm zu folgen, und stiefelte zur Tür. Ich zögerte: Boom-Sook hatte mir verboten, das Labor zu verlassen. Wing~027 sagte ernst: ‹Wenn du noch lange leben willst, Sonmi~451, musst du dir deine eigenen Katechismen erfinden.› Er warf mich über seine verkohlte Schulter, trug mich über den gespaltenen Flur, bog einmal scharf um die Ecke und marschierte eine staubige Wendeltreppe hinauf, an deren Ende sich eine Tür befand. Er stieß sie mit dem Fuß auf. Die Morgensonne blendete mich; Wind schlug mir ins Gesicht und zog an meinen Haaren.
‹Das Dach der psychogenomischen Fakultät›, erklärte Wing~027 und setzte mich neben sich auf dem Sims ab. Ich hielt mich am Geländer fest: Sechs Stockwerke tiefer befand sich ein Kaktusgarten, Vögel jagten zwischen den Stacheln nach Insekten; acht Stockwerke tiefer der Berghang, ein halb voller Parkplatz; zehn Stockwerke tiefer ein Sportoval mit laufenden Studenten in Uniform; darunter ein Konsumentenplaza, dahinter der sanft abfallende Wald, das schwarze, neonblinkende BZ-Meer, Hochhäuser, Schlafsilos, der Han, schließlich die Berge und der vom Brummen der Aeros begleitete Sonnenaufgang. Wing sagte mit seiner sanften, heiseren Stimme: ‹Verglichen mit der Welt, Sonmi~451, ist alles, was du von hier oben siehst, nur ein Steinsplitter.›
Mein Verstand versuchte diese Ungeheuerlichkeit zu greifen und ließ sie fallen; ich wusste nicht einmal, was ich brauchte, um einen so grenzenlosen Ort zu verstehen.
Intelligenz, sagte Wing: Der Aufstieg würde mich damit ausstatten. Zeit: Boom-Sook Kims Faulheit würde sie mir geben. Doch vor allem bräuchte ich Wissen.
Ich fragte, wo man Wissen findet.
‹Du musst lesen lernen, kleine Schwester›, antwortete er.
Dann war also Wing~027 dein erster Mentor und nicht Hae-Joo Im oder Vorstand Mephi?
Wing~027 hätte mir noch vieles beibringen können, aber unsere zweite Begegnung war zugleich unsere letzte. Eine Stunde vor der Ausgangssperre kam er noch einmal in Boom-Sooks Labor, um mir einen ‹geretteten› Sony zu bringen: Darauf waren alle autodidaktischen Module der konzernokratischen Schulausbildung installiert. Der Katastrophenschützer zeigte mir, wie das Gerät funktionierte, und schärfte mir ein, mich niemals von einem Reinblüter dabei erwischen zu lassen, wie ich mir Wissen aneignete; das jage ihnen Angst ein, und ein verängstigter Reinblüter sei zu allem fähig.
Als Boom-Sook am Fünften Tag aus Taiwan zurückkam, beherrschte ich den Sony und hatte die Grundschule abgeschlossen. Zu Beginn von Monat Sechs war ich mit der höheren Schule fertig. Sie gucken skeptisch, Archivar, aber vergessen Sie nicht, ich war eine ausgehungerte Dienstbotin auf einem Festbankett. Das Essen steigerte nur meinen Appetit. Die Pfade des Sony führten mich durch Universitäts- und Staatsbibliotheken. Wir sind nur so viel, wie wir wissen.
Ich wollte nicht skeptisch gucken, Sonmi. Dein Verstand, deine Sprache, deine … Persönlichkeit sind mehr als Beweis genug für deine Lernbegeisterung. Eines verwirrt mich allerdings: Warum ließ Boom-Sook Kim dir so viel Zeit zum Studieren? Als Xec-Nachkomme war er wohl kaum ein heimlicher Abolitionist. Was ist mit den Xperimenten, die er an dir vornehmen wollte?
Boom-Sook Kim interessierte sich nicht für Xperimente, sondern für Alkohol, Glücksspiele und seine Armbrust. Sein Vater war eine ranghoher Xec bei Kwangju Genomics; bevor sein Sohn den Marktwert der Familie ruinierte, strebte er sogar einen Sitz im Juche-Vorstand an.
Aber wie wollte Boom-Sook dann zu
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