Der Wolkenatlas (German Edition)
Ersten Abend von Monat Zwölf. Ich wachte vor Tagesanbruch auf und sah verzückt zu, wie die Flocken die Neujahrsfeen in den Fenstern umrahmten. Die Büsche unter der verwahrlosten Statue senkten unter der Last des Schnees ihre Zweige; die Figur bekam etwas grotesk Erhabenes. Schneekristalle sind zerdrückte Fliederblüten im Halblicht.
Ungefähr um diese Zeit müsste Dr. Mephi die Bühne betreten haben.
Ja, am Sextettabend. Boom-Sook, Min-Sic und Fang platzten zu später Stunde herein; sie waren im Drogenrausch und krümmten sich vor Lachen. Mir gelang es, im Vorraum gerade noch meinen Sony zu verstecken. Boom-Sook hatte ein Barett auf, und Min-Sic trug einen Korb voller Orchideen mit Pfefferminzduft, die so groß waren wie er selbst. Er warf sie mir zu und rief: ‹Blüten für Spinni, Sonny, Sonmi oder wie das Ding heißt …›
Fang durchstöberte den Schrank, in dem Boom-Sook seinen Soju aufbewahrte, und warf drei Flaschen über seine Schulter. ‹Alles Hundepisse!›, schnauzte er. Min-Sic fing zwei Flaschen auf, aber die dritte zersprang auf dem Fußboden, was erneutes Gelächter hervorrief. ‹Mach das weg, Aschenputz!› Boom-Sook klatschte in die Hände und versprach Fang, er würde eine Flasche vom Allerbesten stiften, schließlich seien nur einmal im Jahr Sextettferien. Während ich die Glassplitter auffegte, fand Min-Sic einen Splatterporno-Disney auf 3D. Sie guckten ihn sich begeistert an, zankten sich, ob er realistisch genug war, und tranken dabei den guten Soju. An diesem Abend machte der Alkohol sie xtrem rücksichtslos, besonders Fang, und das beunruhigte mich. Ich zog mich in den Vorraum zurück. Von dort hörte ich, wie Gil-Su Noon ins Labor kam und die Feiernden bat, leiser zu sein. Ich horchte.
Min-Sic machte sich über Gil-Su Noons Brille lustig und fragte ihn, ob seine Familie nicht genug Dollars habe, um seine Kurzsichtigkeit weglasern zu lassen. Boom-Sook meinte, er solle sich den Kopf in den Arsch stecken, wenn er am letzten Tag des Jahres seine Ruhe haben wollte. Fang drohte, er würde seinen Vater bitten, beim Noon-Clan eine Steuerprüfung anzuordnen. Gil-Su Noon stand wutschäumend in der Tür, bis die drei Xecs anfingen, ihn unter höhnischen Beschimpfungen mit Pflaumen zu bewerfen.
Fang war offenbar der Anführer.
Ja: Er konnte gut bei anderen persönliche Schwächen bloßlegen und sie damit unter Druck setzen. Heute lebt er mit Sicherheit als erfolgreicher Jurist in einer der zwölf BZs. An jenem Abend beschloss er, Boom-Sook aufs Korn zu nehmen. Er wedelte mit der Soju-Flasche vor dem Kodak mit dem toten Schneeleoparden herum und fragte, ob diese Raubtiere genomisch gezähmt würden, damit Touristen sie ungefährdet jagen könnten.
Boom-Sooks fühlte sich in seinem Stolz verletzt: Er jage nur Tiere, antwortete er scharf, die genomisch xtra bösartig gemacht werden. Sein Bruder und er hatten den Schneeleoparden stundenlang durch ein Reservat im Kathmandutal gejagt, bis das in die Enge getriebene Tier seinem Bruder an die Kehle gesprungen war. Boom-Sook hatte nur einen einzigen Schuss. Er traf die Bestie mitten im Sprung zwischen die Augen.
Fang und Min-Sic gaben sich einen Moment lang beeindruckt, dann brachen sie erneut in schallendes Gelächter aus. Min-Sic kugelte sich vor Lachen auf dem Boden und keuchte: ‹Mann, du redest vielleicht eine Scheiße, Kim!› Fang betrachtete das Kodak genauer und meinte, es sei ganz klar ein Digi.
Boom-Sook malte mit ernster Miene ein Gesicht auf eine synthetische Melone, schrieb ‹Fang› auf die Stirn und legte die Frucht auf einen Stapel Zeitschriften neben die Tür. Dann nahm er die Armbrust von seinem Schreibtisch, ging zum Fenster und zielte.
‹Nein, nein, nein, nein, nein!›, protestierte Fang, wild mit den Armen fuchtelnd, und wandte ein, dass Melonen dem Jäger nicht die Kehle zerreißen, wenn er danebenschießt. Boom-Sook stand nicht genügend unter Druck. Er gab mir ein Zeichen, mich neben die Tür zu stellen.
Ich erkannte, was er vorhatte, und erhob Einspruch, aber Fang schnitt mir das Wort ab und sagte, er werde Min-Sic die Verantwortung für meine Seife übertragen, wenn ich mich seinem Willen widersetzte. Min-Sics Lächeln erstarb: Ich verstand die Drohung. Fang bohrte seine Fingernägel in meinen Arm, zerrte mich zur Tür und setzte mir das Barett auf. Dann malte er ein Katzengesicht auf die Melone und legte sie auf meinen Kopf. ‹So, Boom-Sook›, stichelte er, ‹hältst du dich immer noch für einen absolut
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