Der Wolkenatlas (German Edition)
gespaltener Flur endete vor einer angelehnten Tür; auf dem Schild stand Boom-Sook Kim . Herr Chang klopfte, aber niemand antwortete.
‹Du wartest besser drinnen auf Herrn Kim›, sagte er. ‹Gehorche ihm und erweise ihm denselben Respekt wie deinem Seher.› Beim Hineingehen fragte ich Herrn Chang, welche Arbeit ich verrichten solle, aber der Chauffeur war schon fort. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich ganz allein.
Wie empfandest du dein neues Zuhause?
Der Dreck fiel mir negativ auf. Unser Restaurant war stets blitzsauber, denn Reinheit gehört zu den Katechismen. Boom-Sook Kims Labor war ein lang gezogener, staubiger Raum, und es roch nach den ranzigen Ausdünstungen eines Reinblütermanns. Die Papierkörbe quollen über; neben der Tür hing eine Zielscheibe; an den Wänden standen Labortische, überladene Schreibtische, veraltete Sonys und durchhängende Bücherregale. Über dem einzigen Schreibtisch, an dem offensichtlich gearbeitet wurde, hing das gerahmte Kodak eines Jungen, der strahlend neben einem blutverschmierten Schneeleoparden stand.
Ein schmutziges Fenster ging auf einen ungepflegten Innenhof mit einer bunt gesprenkelten Gestalt auf einem Sockel hinaus. Ich hoffte, es wäre mein neuer Logoman, aber er zeigte keine Regung.
In einem engen Vorraum entdeckte ich eine Pritsche, einen Sanitär und eine Art portablen Dampfstrahler. Wann sollte ich ihn benutzen? Versäumte ich vielleicht die Vesper? Welche Katechismen regelten an diesem Ort mein Leben?
Es war heiß, und überall lag heller Staub. Meine genomisch versiegelten Poren juckten. Eine summende Stubenfliege malte träge Achten in die Luft. Verzückt sah ich ihr zu.
Hattest du noch nie ein Insekt gesehen?
Nur genmutierte Kakerlaken. Die Aircon bei Papa Song verteilt Insektizide, damit jedes Insekt, das mit dem Fahrstuhl hereingebracht wird, sofort stirbt und nur noch weggefegt werden muss. Diese Fliege hier flog immer wieder gegen die Fensterscheibe. Damals wusste ich noch nicht, dass man Fenster öffnen kann. Dann setzte die Fliege sich an die Decke. Warum fiel sie nicht herunter?
Ich hörte falschen Gesang; ein Popsong über Pnom-Penh-Girls. Kurz darauf stieß ein mit mehreren Umhängetaschen beladener Student in Badeshorts, Sandalen und Seidenhemd die Tür auf. Er sah mich und grunzte: ‹Was, im Namen der heiligen Konzernokratie, hast du hier zu suchen?›
Ich zeigte ihm mein Halsband. ‹Sonmi~451, Herr. Papa Songs Bedienerin aus …›
‹Halt die Klappe, ich weiß, was du bist!› Der junge Mann hatte den Froschmund und den verletzten Blick, die damals gerade en vogue waren. ‹Aber du solltest erst am Fünften Tag hier sein! Tut mir leid, aber wenn die Dildödel im Immatrikulationsbüro glauben, ich lasse eine Fünf-Sterne-Konferenz in Taiwan sausen, nur weil sie zu blöd sind, richtig in den Kalender zu gucken, können sie von mir aus in einer ebolaverseuchten Kloake Maden lutschen. Ich bin nur hier, um meinen Arbeitssony und meine Discs zu holen. Ich spiele doch nicht Babysitter für einen Versuchsklon, der noch in seiner Uniform steckt, wenn ich mich in Taipeh versündigen kann, bis ich kollabiere.›
Die Fliege flog wieder gegen das Fenster; der Student nahm ein Faltblatt und stieß mich zur Seite. Der Schlag ließ mich zusammenzucken. Er untersuchte den Fleck mit triumphierendem Gelächter und sagte mit verstellter Stimme: ‹Das soll dir eine Lehre sein!› Ich wusste nicht, ob er mich oder die zermatschte Fliege meinte. ‹Niemand hintergeht Boom-Sook Kim und kommt ungestraft davon!› Er wandte sich an mich. ‹Fass nichts an, geh nirgendwo hin. Im Kühlschrank liegt Seife – du kannst dich beim Vorsitzenden bedanken, dass dein Futter rechtzeitig eingetroffen ist. Ich bin am Fünften Tag zurück. Wenn ich nicht sofort zum Flughafen fahre, verpasse ich meinen Flieger.›
Ich war wieder allein.
Er steckte noch einmal den Kopf zur Tür herein. ‹He. Du kannst doch sprechen, oder?›
Ich nickte.
Boom-Sook Kim seufzte theatralisch: ‹Danke, Vorsitzender ! So viel ist sicher – auf dieser Welt gibt es keine Schwachsinnstat, die nicht gerade irgendwo von irgend’nem bekloppten Verwaltungsklon begangen wird.›
Was … solltest du in den nächsten drei Tagen tun?
Ich hatte keine Ahnung. Ich sah zu, wie der Rolexzeiger die Stunden fraß. Vergessen Sie nicht, wir werden genomiert, um neunzehn Stunden lang ohne Pause zu stehen. Ich dachte an Frau Rhee. War sie eine trauernde Witwe oder eine fröhliche? Wen würde man zum
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