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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Chongmyo-Plaza-Seher befördern, Assistent Ahn oder Assistent Cho? Mein altes Leben schien mir unsagbar fern. Mein neues Leben unsagbar rätselhaft.
Aus dem Innenhof drangen merkwürdige Geräusche herauf. Sie kamen aus den Büschen unter dem Sockel. Ich schaute genauer hin und sah zum ersten Mal echte Vögel; Mauerschwalben. Ich hatte schon im 3D Vögel gesehen, aber noch nie so viele auf einmal, die wild und ziellos durcheinander flatterten. Ein Aero überflog den Hof, und Hunderte von Vögeln stoben hinauf in den Himmel. Warum sangen sie? Für wen?
Ich beobachtete sie, bis am Himmel die Ausgangssperre einsetzte und es im Zimmer dunkel wurde. Meine erste Nacht im Draußen. In den Fenstern auf der anderen Seite des Innenhofs wurde es hell. Ich sah Labore wie das von Boom-Sook mit jungen Reinblütern darin; ordentliche Büros, in denen Professoren saßen; belebte Flure, stille. Nur einen Duplikanten sah ich nirgends.
Um Mitternacht trank ich einen Beutel Seife, legte mich auf die Pritsche und wünschte mir, Yoona~939 wäre bei mir, um mir die unendlich vielen Rätsel dieses Tages zu erklären.
     
    Wusstet du beim Aufwachen, wo du warst?
Die Seife enthielt weniger Amneside als im Papa Song, aber mehr Soporfix, deshalb schlief ich länger, war beim Aufwachen jedoch klarer. Die erste Überraschung meines zweiten Tags im Draußen stand auf der anderen Seite des Vorraums. Eine riesenhafte, über drei Meter große Gestalt in einem orangen Overall studierte die Bücherregale. Die Haut in seinem Gesicht und am Hals war bis auf wenige weiße Flecke krebsrot und rabenschwarz verkohlt, aber er schien sich ziemlich wohl zu fühlen. Sein Halsband verriet mir, dass er kein Reinblüter war, aber ich hatte noch nie einen Duplikanten von seinem Stammtyp oder seiner Statur gesehen.
‹Hier gibt’s kein Stimulin.› Seine Stimme klang, als käme sie aus einem tiefen Loch. Sein Lippen waren weggenomiert worden, und seine Ohren wurden von Ventilen aus nagelähnlicher Substanz geschützt. ‹Du wachst auf, wenn du aufwachst, besonders wenn dein Doktorand so ein Faulpelz ist wie Boom-Sook Kim. Xec-Doks sind die schlimmsten. Denen wird vom Kindergarten bis zum Euthanasium der Arsch gewischt. Sie haben keine Disziplin; denken nur an sich. Reine Platzverschwendung.› Er zeigte mit seiner riesigen, zweidaumigen Hand auf einen blauen Overall, der halb so groß war wie seiner. ‹Für dich, kleine Schwester.› Während ich meine Papa-Song-Uniform gegen die neue Bekleidung tauschte, fragte ich ihn, ob ihn ein Seher oder Assistent geschickt habe, um mich zu orientieren. ‹Nein›, antwortete der verbrannte Riese. ‹Dein Dok und meiner sind so was wie Freunde. Boom-Sook rief gestern an, um sich über die vorzeitige Lieferung zu beschweren. Dich. Ich wollte dich eigentlich schon vor der Ausgangssperre besuchen, aber im Unterschied zu den Psychogenomikern arbeiten die Doks aus der Genomchirurgie bis spät in die Nacht. Ich bin Wing~027. Wollen mal sehen, warum du hier bist.›
Die Rolex an der Wand sorgte für die zweite Überraschung des Tages: Ich hatte volle sechs Stunden geschlafen. Wing~027 setzte sich auf Boom-Sooks Schreibtisch und machte den Sony an, ohne meinen Einwand zu beachten, dass mein Dok mir verboten hatte, ihn anzurühren. Er klickte auf das Screenboard: Yoona~939 erschien. Er fuhr mit dem Finger über die Wörterreihen. ‹Lass uns zum Allgegenwärtigen Vorsitzenden beten, dass Boom-Sook diesen Fehler kein zweites Mal macht …›
Ich fragte Wing, ob er lesen könne.
‹Wenn sogar ein willkürlich zusammengeschusterter Reinblüter lesen kann›, antwortete Wing, ‹wird es einem sorgfältig konstruierten Duplikanten wohl kaum schwer fallen, es zu lernen.› Eine Sonmi erschien auf dem Sony. Wing las: Gehirn-Upsizing eines internierten Service-Duplikanten: eine Fallstudie am Beispiel von Sonmi~451. Von Boom-Sook Kim . ‹Warum nur›, fragte er, ‹will ein hirnloser Xec-Dok so hoch hinaus?›
     
    Was für ein Duplikant war Wing~027? Ein Milizionär?
‹Katastrophenschützer›, verkündete er stolz. ‹Wir arbeiten in Deadlands, die so schwer infiziert oder radioaktiv verstrahlt sind, dass die Reinblüter dort eingehen wie Bakterien in Bleichmittel. Unsere Gehirne wurden nur geringfügig genomisch optimiert: Wir müssen selbständig denken. Während der Orientierung lernen wir mehr als die Reinblüter auf der Universität. Und zeig mir mal einen Reinblüter, der das hier überleben würde.› Er entblößte seinen

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