Der Wolkenatlas (German Edition)
dass sie ihre Vorlesung herunterrasselte, ohne ein einziges Mal von ihren Aufzeichnungen aufzublicken.
Vorurteile sind ewige Gefrornis.
Hast du noch weitere Vorlesungen auf dich genommen?
Eine, über Lööws Fundamente . Ich verzichtete auf Begleitung, weil Beschimpfungen mir lieber waren als ein Schutz von außen. Ich ging xtra früh hin, setzte mich an den Rand und behielt meine Kapuze auf, als der Saal sich füllte. Die Studenten beäugten mich misstrauisch, aber es flogen keine Papiergeschosse. Zwei Jungen in der Reihe vor mir drehten sich um. Sie machten ernste, betroffene Gesichter. Einer fragte, ob ich wirklich ein künstliches Genie sei.
‹Genie ist ein Wort, mit dem man nicht leichtfertig um sich werfen sollte›, erwiderte ich.
Die beiden starrten die sprechende Bedienerin erstaunt an. ‹Es muss doch die Hölle sein›, sagte der andere, ‹wenn man einen scharfen Verstand hat, der in einem minderwertigen, zum Dienen genomierten Körper gefangen ist.›
Ich antwortete, ich sei mit diesem Körper auf die Welt gekommen.
Als ich aus dem Hörsaal kam, stürzte sich eine fünfzigköpfige, mit Walkmanmikros und blitzenden Nikons bewaffnete Hydra auf mich und bombardierte mich mit Fragen. Aus welchem Papa Song ich kam? Wer mich in Taemosan eingeschrieben hatte? War ich wirklich ‹aufgestiegen›? Auf welche Weise? Gab es noch andere von meiner Sorte? Hatte ich von Yoona~939 gehört? Wie viele Wochen mir noch blieben, bis mein Verstand wieder verkümmerte? War ich eine Abolitionistin? Hatte ich einen Freund?
Die Medien hatten Zutritt zu einer staatlich finanzierten Hochschule?
Nein, aber sie bezahlten jeden, der einen Beitrag über die Sonmi von Taemosan lieferte. Ich vermummte mein Gesicht und versuchte mich bis zur Eintracht-Fakultät vorzukämpfen, aber die Menge ließ mich nicht durch, und bevor es zwei Vollstreckern in Zivil gelang, den Gang zu räumen, hatte man mir die Kapuze heruntergerissen, mich zu Boden geworfen und mir böse Prellungen beigebracht. Professor Mephi empfing mich in der Eingangshalle und murmelte, ich sei zu wertvoll, um dem sensationslüsternen Pöbel ausgesetzt zu werden. Er drehte energisch an seinem Regensteinring; ein Zeichen, dass er unter Stress stand.
Wir einigten uns darauf, die Vorlesungen in Zukunft auf meinen Sony zu überspielen.
Wie waren die morgendlichen Xperimente, die man an dir vornahm?
Eine tägliche Erinnerung an meinen wahren Status. Rückblickend erkenne ich dieselbe Entfremdung, die Yoona~939 erfuhr, als sie sich in sich selbst zurückzog. Wozu eignete ich mir all das Wissen an, fragte ich mich oft, wenn ich es nicht dazu benutzen konnte, mein Leben zu verbessern? Die Trostlosigkeit meiner Situation wurde mir bewusst. Wie würde ich in meiner geistigen Überlegenheit zu den Zwölfstern-Schwestern passen, wenn ich in neun Jahren ins Elysium kam? War es möglich, das erworbene Wissen mit Amnesiden zu löschen? Wollte ich das überhaupt?
Stundenlang saß ich untätig vor dem Sony. In einer ganzen Woche las ich nichts außer einem Märchen in Yoonas Buch vom Draußen. Es hieß Die kleine Meerjungfrau , eine düstere Abhandlung über das Nirgendwo-Hingehören. Monat Vier kam und mit ihm mein erster Jahrestag als Versuchsmonster von Taemosan, aber der Frühling stimmte mich nicht fröhlich.
‹Meine Neugier versiegt›, sagte ich zu Professor Mephi während unseres Seminars über Thomas Paine. Es war ein strahlender Erster Tag; durch das Fenster drang Lärm von einem Baseballspiel.
Mein Lehrer meinte, wir müssten schnellstens der Ursache meines Leidens auf den Grund gehen.
Ich erklärte ihm, dass Lesen kein richtiges Wissen ist; Wissen ohne Erfahrung sei wie Essen ohne Nährwert.
‹Du musst mehr unter Leute gehen›, meinte der Professor.
Zurück in die Vorlesung? Auf den Campus? Oder ins BZ?
Am Neunten Abend schneite ein Eintracht-Dok namens Hae-Joo Im in meine Wohnung. Er sprach mich mit Fräulein Sonmi an und sagte, Professor Mephi habe ihn gebeten, mich aufzuheitern. Und da Professor Mephi die Macht über seine Zukunft in den Händen halte, bleibe ihm wohl nichts anderes übrig. ‹Das war nur ein Scherz›, fügte er hinzu. Dann fragte er, ob ich mich an ihn erinnerte.
Das tat ich. Seine schwarzen Haare waren inzwischen kastanienbraun und kurz geschoren, und in seine Augenbrauen war ein Zickzackmuster rasiert; aber er war Boom-Sooks drahtiger X-Klassenkamerad, der dem Schwachkopf Min-Sic die Nachricht von Wing~027s Tod überbracht hatte.
Er
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