Der Wolkenatlas (German Edition)
sah sich in meinem Wohnzimmer um. ‹Na, das schlägt Boom-Sooks Kabuff aber um Längen. Dieses Zimmer ist größer als die Wohnung meiner Eltern.›
Ich stimmte ihm zu: Die Wohnung sei sehr geräumig.
Betretenes Schweigen machte sich breit. Nach einer Weile sagte er: ‹Ich warte auch gern hier im Fahrstuhl, bis du mich rausschmeißt.›
Ich entschuldigte mich wieder einmal für meine schlechten Umgangsformen und bat ihn herein.
Er zog seine Nikes aus und sagte: ‹ Ich entschuldige mich für meine schlechten Umgangsformen. Wenn ich nervös bin, quatsche ich zu viel und rede dummes Zeug. Nochmal von vorne. Darf ich mich auf deine Schwebe-Chaiselongue setzen?›
Ich bejahte und fragte, warum ich ihn nervös machte.
Das liege doch auf der Hand, antwortete er: Ich sähe aus wie jede Sonmi in jedem stinknormalen Restaurant, aber sobald ich den Mund aufmachte, würde ich mich in einen Doktor der Philosophie verwandeln. Der Dok schaukelte mit übereinander geschlagenen Beinen auf der Chaiselongue und fuhr mit der Hand durch das Magnetfeld. Dann sagte er: ‹Eine Stimme in mir flüstert die ganze Zeit: Vergiss nicht, das Mädchen ist ein Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte. Der erste stabil aufgestiegene Duplikant! Pass auf, was du sagst! Gib nur tiefsinnige Gedanken von dir! › Natürlich fasele er deshalb nur umso banaleres Zeug.
Ich fühlte mich nicht wie ein Meilenstein, versicherte ich ihm, sondern eher wie ein Versuchsobjekt.
Hae-Joo zuckte bloß die Achseln. ‹Der Professor hat gemeint, ein Abend in der Stadt würde dir gut tun›, sagte er und wedelte lächelnd mit einem Seelenring. ‹Auf Kosten der Eintracht. Juhu! Uns sind keine Grenzen gesetzt. Wozu hast du Lust?›
Ich bat ihn um Entschuldigung, aber ich wisse es nicht.
‹Hm›, tastete er sich vor, ‹was tust du zur Entspannung?›
‹Ich spiele Go gegen meinen Sony.›
‹Zur Entspannung?›, fragte er ungläubig. ‹Wer gewinnt, du oder der Sony?›
‹Der Sony›, antwortete ich, ‹wie soll ich sonst mein Spiel verbessern?›
‹Gewinner sind also die wahren Verlierer, weil sie nichts dazulernen? Was sind dann die Verlierer? Gewinner?›
Ich wusste nicht, ob er sich über mich lustig machte. ‹Wenn die Verlierer sich zunutze machen, was ihre Gegner ihnen beibringen, können Verlierer auf lange Sicht zu Gewinnern werden, ja.›
‹Geliebte Konzernokratie›, schnaubte Hae-Joo. ‹Komm, lass uns ins BZ fahren.›
Hast du dich nicht über ihn geärgert?
Anfangs sogar sehr; aber dann machte ich mir klar, dass dieser Dok die Medizin war, die Professor Mephi mir gegen meine Resignation verordnet hatte. Außerdem besaß Hae-Joo die Höflichkeit, mich wie ein ‹Individuum› zu behandeln; nicht einmal Yoona~939 hatte so zwanglos mit mir geredet. Ich fragte meinen Besucher, was er an einem Neunten Abend unternahm, wenn er nicht dazu gezwungen wurde, sich um wertvolle Forschungsobjekte zu kümmern.
Hae-Joo setzte ein diplomatisches Lächeln auf und erwiderte, dass Männer aus Mephis Schicht niemanden zu zwingen bräuchten; sie gäben lediglich Anregungen. Meistens besuchte er an Neunten Abenden mit Kommilitonen ein Restaurant oder eine Bar, und wenn er Glück hatte, ging er mit einem Mädchen tanzen.
Ich war kein Kommilitone und streng genommen auch kein Mädchen.
Er schlug vor, in einer Galleria ‹von den Früchten Nea So Copros’ zu naschen›.
Ob es ihm nicht peinlich sei, mit einer Sonmi gesehen zu werden, wollte ich wissen und bot ihm an, mir einen Hut und eine große Sonnenbrille aufzusetzen.
Hae-Joo Im sah mich unschlüssig an und schlug einen falschen Zaubererbart und ein Rentiergeweih vor.
‹So etwas habe ich nicht›, erwiderte ich.
Er lachte und meinte, ich solle anziehen, worin ich mich wohl fühle; in der Stadt würde ich ganz bestimmt viel weniger auffallen als im Hörsaal. Das Taxi stand unten, er würde in der Halle auf mich warten.
Hat es dich nervös gemacht, Taemosan zu verlassen?
Ein bisschen, ja. Hae-Joo lenkte mich ab, indem er den Reiseführer spielte. Er schickte das Taxi vorbei am Denkmal für die gefallenen Plutokraten, einmal um den Kyōngbokkung-Palast und weiter zur Allee der zehntausend AdVs. Der Fahrer, ein reinblütiger Bangladeschi, hatte einen guten Riecher für prall gefüllte Spesenkonten. ‹Ein idealer Abend für den Mondturm›, erwähnte er beiläufig, und Hae-Joo ging sofort darauf ein. Die Straße schlängelte sich spiralförmig die riesenhafte Pyramide hinauf, hoch, hoch über den Baldachinen; nur
Weitere Kostenlose Bücher