Der Wolkenatlas (German Edition)
Garküchen wohl fühle. Der Winter auf dem Berg Taemosan brannte mir auf der Haut und in der Lunge, also saß ich sechs Tage lang drinnen und lernte.
Als ich am Neujahrsmorgen aufwachte, fand ich drei Geschenke. Einen Stern für mein Halsband – mein dritter –, den zerbeulten alten Sony von Wing~027 – jemand musste ihn aus Boom-Sooks X-Labor geholt haben – und ein Buch, dessen Titel ich nun lesen konnte: Hans Christian Andersens Märchen . Ich schlug es auf und erkannte Yoonas Buch vom Draußen. Ich las es in einem Zug durch und dachte an meine Schwestern, die sich in ganz Nea So Copros auf ihre Sternzeremonie freuten. Die glücklichen Zwölfsterne würden noch an diesem Morgen ins Elysium nach Hawaii aufbrechen.
Ich wünschte mir so sehr, Yoona~939 könnte mich zu meiner ersten Vorlesung am Zweiten Tag begleiten. Ich vermisste sie schrecklich; ich vermisse sie immer noch.
Wovon handelte deine erste Vorlesung?
Swantis Biomathematik ; aber das eigentliche Thema hieß Erniedrigung. Ich setzte die Kapuze auf und ging durch den braunen Schneematsch unbemerkt zum Hörsaal. Doch als ich auf dem Flur meinen Mantel auszog, sorgte mein Sonmi-Gesicht für Überraschung, die rasch in Unbehagen umschlug. Im Hörsaal löste mein Erscheinen schlagartig eine feindselige Stille aus.
Die Stille währte nicht lange. ‹He!›, schrie ein Junge. ‹Einen heißen Ginseng und zwei Hundeburger!›, worauf der ganze Saal in Gelächter ausbrach. Aufgrund meiner Genomierung kann ich nicht erröten, aber mein Puls fing an zu rasen. Ich setzte mich in die zweite Reihe neben ein paar Mädchen. Ihre Anführerin hatte smaragdgrüne Zähne: ‹Das ist unsere Reihe. Setz dich gefälligst nach hinten. Du stinkst nach Mayo.› Ich gehorchte. Eine Papierschwalbe streifte mein Gesicht. ‹Ich kaufe keine Burger in deinem Restaurant, Duplikant: Warum machst du dich dann in meiner Vorlesung breit?› Ich wollte gerade gehen, als die spinnenhafte Dr. Ch’uan die Bühne betrat und ihre Aufzeichnungen auf das Pult fallen ließ; die Vorlesung hatte begonnen. Ich konzentrierte mich, so gut es ging; Swantis Theorien waren mir bekannt, nicht aber ihre praktische Umsetzung. Nach ungefähr fünfzehn Minuten ließ Dr. Chu’an den Blick über ihre Zuhörer schweifen, sah mich und hielt mitten im Satz inne. Die Studenten wussten, warum. Dr. Chu’an zwang sich, mit ihrem Vortrag fortzufahren. Ich zwang mich, sitzen zu bleiben. Ich hätte am Ende gern eine Frage gestellt, aber mir fehlte der Mut. Draußen wurde ich von hämischen Bemerkungen empfangen.
Wusste Professor Mephi, wie unhöflich die Studenten sich benahmen?
Ja. Er erkundigte sich, ob die Vorlesung ergiebig für mich gewesen sei; ich wählte das Wort ‹informativ› und fragte ihn, warum die Studenten mich so verachteten, obwohl ich ihnen überhaupt nichts getan hatte.
Er erwiderte: ‹Warum fürchtet sich jeder Herrscher davor, dass die Beherrschten Bildung erlangen?›
Ich wagte nicht, das Wort ‹Aufstand› auszusprechen, und wählte den vorsichtigen Weg. ‹Was wäre, wenn die Unterschiede zwischen den Gesellschaftsschichten nicht auf Genomik, auf die Leistung des Einzelnen oder gar auf Dollars zurückzuführen sind, sondern auf Unterschiede in der Bildung?›
‹Wäre die gesamte Pyramide dann nicht auf Treibsand gebaut?›, gab der Professor zu bedenken.
Ich antwortete, ein solcher Gedanke könnte als schwere Abweichung gewertet werden.
Mephi wirkte erfreut. ‹Was hältst du davon: Duplikanten sind der Spiegel für das Gewissen der Reinblüter; was sie darin erblicken, widert sie an. Also geben sie dem Spiegel die Schuld.›
Ich fragte ihn, wann die Reinblüter sich wohl selbst die Schuld geben würden.
Mephi antwortete: ‹Wenn wir der Geschichte glauben, erst dann, wenn sie dazu gezwungen werden.›
Ich merkte, dass ich den Winter satt hatte. ‹Wann wird das sein?› Der Professor drehte seinen antiken Globus. ‹Dr. Chu’ans Vorlesung geht morgen weiter.›
Es hat dich sicher viel Mut gekostet, wieder dort hinzugehen.
Ein Vollstrecker begleitete mich. Dieses Mal hagelte es keine Beschimpfungen. Der Vollstrecker wandte sich mit boshafter Liebenswürdigkeit an die Mädchen in der zweiten Reihe: ‹Das ist unsere Reihe. Hinten sind noch reichlich Plätze frei.› Die Mädchen verzogen sich, aber ich fühlte mich nicht wohl dabei: Sie taten es aus Angst vor der Eintracht, nicht weil sie mich akzeptierten. Der Vollstrecker machte Dr. Chu’an so nervös,
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