Der Wolkenatlas (German Edition)
die Konzern-Monolithen waren noch höher. Waren Sie schon einmal nachts auf dem Mondturm, Archivar?
Nein, noch nicht einmal bei Tag. Wir Bürger überlassen den Turm im Wesentlichen den Touristen.
Holen Sie es unbedingt nach. Aus dem zweihundertvierunddreißigsten Stock verschwamm das BZ zu einem Nebel aus Xenon, Neon, Bewegung, CO 2 und Baldachinen. Ohne die Glaskuppel, erklärte mir Hae-Joo, würden wir in dieser Höhe davonwehen wie leinenlose Spielzeugdrachen. Er deutete auf verschiedene Erhebungen und Wahrzeichen; manche kannte ich aus AdVs oder dem 3D. Chongmyo Plaza war hinter einem Monolithen versteckt, aber das Stadion war deutlich zu erkennen: ein offenes, tagblaues Auge. An diesem Abend war die SamenCorp der Mondsponsor. Der gigantische Luna-Beamer auf dem fernen Fuji projizierte AdV nach AdV auf das Gesicht des Mondes: babygroße Tomaten, cremefarbene Blumenkohlwürfel, Lotuswurzeln ohne Loch; aus dem plappernden Mund des Samen-Logoman quollen Sprechblasen.
Auf der Fahrt hinunter erzählte der alte Taxifahrer von seiner Kindheit in einem fernen BZ namens Mumbai, das heute vom Meer überschwemmt war. Damals sei der Mond noch nackt gewesen. Hae-Joo meinte, er würde ausflippen, wenn der Mond keine AdVs mehr zeige.
Welche Galleria habt ihr besucht?
Wangshimni Orchard. Die Galleria erinnerte mich an eine Enzyklopädie – nicht aus Worten, sondern aus Gegenständen. Über Stunden zeigte ich auf die verschiedensten Auslagen, und Hae-Joo antwortete: Bronzemasken, Vogelnester-Instantsuppe, Dienstboten-Duplikanten, goldene Suzukis, Luftfilter, säurefeste Gazemasken, Orakelpuppen des Geliebten Vorsitzenden und Statuetten des Allgegenwärtigen Vorsitzenden, Parfüms mit Edelsteinstaub, Perlmuttseidenschals, Echtzeitkarten, Artefakte aus den Deadlands, programmierbare Geigen. In eine Apotheke gingen wir auch: Tabletten gegen Krebs, Aids, Alzheimer, Bleivergiftung; gegen Übergewicht, Magersucht, Haarausfall, xessiven Haarwuchs, Gefühlsüberschwang, Niedergeschlagenheit; Elixia-Präparate gegen das Altern; Pillen gegen Elixia-Abhängigkeit.
Plötzlich schlug es Stunde Einundzwanzig, und wir hatten noch nicht einmal ein Zehntel einer einzigen Zone gesehen. Die Konsumenten kauften und kauften und kauften – wie ein riesiger, dollarspuckender Schwamm, der gierig die Waren und Dienstleistungen der Geschäfte, Verkaufsstände, Restaurants und Bars in sich aufsog.
Wir gingen auf eine elegante Café-Terrasse. Hae-Joo holte sich einen Starbuck und für mich ein Aqua. Er erklärte mir, dass die Bereicherungsgesetze alle Konsumenten verpflichteten, jeden Monat ein nach Schichtzugehörigkeit bemessenes Dollarkontingent auszugeben. Das Horten stelle ein Verbrechen gegen die Konzernokratie dar. Das wusste ich zwar schon, unterbrach ihn aber nicht. Da seine Mutter sich vor den modernen Gallerias fürchtete, erzählte er, war meistens er derjenige, der das Kontingent erfüllte.
Ich bat ihn, mir vom Leben in einer Familie zu erzählen.
Der Dok lächelte, doch seine Miene verfinsterte sich. ‹Die Familie ist eine notwendige Last›, sagte er. ‹Mutters Hobby ist das Sammeln von Wehwehchen und Tabletten, die sie kurieren. Mein Vater arbeitet im Ministerium für Statistik und schläft vor dem 3D mit einem Eimer über dem Kopf, damit er seine Ruhe hat.› Seine Eltern, vertraute er mir an, waren beide nur natürlich Geborene, die ihr Recht auf ein zweites Kind verkauft hatten. Mit den Dollars hatten sie ihn genomisch optimieren lassen, um ihm so die heiß ersehnte Karriere bei der Eintracht zu ermöglichen. Er wollte schon Eintrachtler werden, seit er als Kind die Vollstreckerdisneys im 3D gesehen hatte. Gegen Bezahlung Türen einzutreten erschien ihm wie ein tolles Leben.
Seine Eltern müssten ihn sehr lieben, wenn sie ein solches Opfer für ihn gebracht hatten, sagte ich. Hae-Joo erwiderte, sein späteres Gehalt sei schließlich ihre Altersversorgung. Dann fragte er, ob es nicht ein verheerender Schock für mich gewesen sei, aus dem Papa Song direkt in Boom-Sooks Labor verpflanzt zu werden. Vermisste ich die Welt denn gar nicht, für die ich genomiert wurde?
Ich antwortete: ‹Duplikanten werden so orientiert, dass sie nichts vermissen.›
‹Bist du über deine Orientierung inzwischen nicht hinausgewachsen?›, bohrte er nach.
Ich sagte, darüber müsse ich erst nachdenken.
Haben die Konsumenten in der Galleria in irgendeiner Weise negativ auf dich reagiert?
Es gab viele Duplikanten dort: Portiers,
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