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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Kamin mit einem flackernden 3D-Feuer. Zwei verglaste Wände boten einen Schwindel erregenden Ausblick auf das BZ, das hinter einem dichten Schneeschleier verschwamm. Die Innenwände hingen voll mit Bildern. Ich fragte den Vorstand, ob dies sein Büro sei.
‹Mein Büro liegt ein Stockwerk höher›, antwortete er. ‹Dies ist deine neue Unterkunft.›
Herr Chang nickte bestätigend und meinte, ich solle meinem Gast doch einen Platz anbieten. Ich bat Vorstand Mephi um Verzeihung; ich hatte noch nie Besuch gehabt, und meinen Manieren fehlte der nötige Schliff.
Das Schwebesofa schwang unter dem Gewicht des Vorstands leicht hin und her; seine Schwiegertochter habe die Wohnung xtra für mich neu eingerichtet, erklärte er. Die Rothkos habe sie wegen ihrer hoffentlich besinnlichen Wirkung ausgewählt. ‹Molekülgetreue Kopien der Originale›, versicherte er mir, obwohl ich gar nicht wusste, was ‹Rothko› bedeutete, ‹auch wenn sich vielleicht einwenden ließe, dass es in unserer Welt keine Originale mehr gibt. Der Stil des Künstlers spiegelt in gewisser Weise deine Situation wider, Sonmi~451; er hat gemalt, wie Blinde sehen.›
     
    Ein verwirrender Abend – vom Armbrustschießen geradewegs in die Kunstgeschichte …
Richtig, und der Abend war noch nicht zu Ende. Der Professor rügte sich dafür, dass er auf der Fahrt vom Chongmyo Plaza nicht bemerkt hatte, was in mir steckte. ‹Ich dachte, du seist nur ein weiterer halb aufgestiegener Forschungsduplikant, dessen Verstand sich nach ein paar Wochen wieder verflüchtigt. Wenn mich nicht alles täuscht, bin ich sogar eingenickt – oder, Herr Chang? Die Wahrheit, wenn ich bitten darf.›
Herr Chang, der neben dem Fahrstuhl stand, erinnerte sich, dass sein Vorgesetzter während der Fahrt ein klein wenig die Augen geschont hatte. Vorstand Mephi zuckte die Achseln. ‹Du möchtest bestimmt wissen, wie ich auf dich aufmerksam geworden bin, nicht wahr, Sonmi?›
Seine Worte waren wie ein Händedruck; komm heraus, ich weiß, dass du da drin bist . Oder eine Falle. Ich täuschte höfliches Unverständnis vor.
Mephis komplizenhafte Miene verriet, dass er mir meine Vorsicht nicht übel nahm. Er erklärte, dass es in Taemosan dreizehntausendneunhundert Studenten gab, die pro Semester über zwei Millionen Downloadanfragen an die Bibliothek stellten. Der Großteil waren Seminartexte und weiterführende Literatur – der Rest reichte von Immobilienpreisen bis zu Aktienkursen, von Sportfords bis zu Steinways, von Yoga bis zur Käfighaltung von Vögeln. ‹Der springende Punkt ist folgender, Sonmi: Sowie die Interessen eines Lesers ungewöhnlich breit gefächert sind, sieht sich der Bibliotheksleiter genötigt, mich zu informieren.› Der Professor machte sein Handsony an und las einige Titel aus meiner Anfragenliste vor. 18/6: das Gilgamesch-Epos , 2/7: Ireneo Funes’ Erinnerungen . 1/9: Gibbons Verfall und Untergang . Sein Gesicht wirkte im malvenfarbenen Licht des Displays beinahe stolz. ‹11/10: eine ungeheuer dreiste Suchanfrage nach Literatur über das Krebsgeschwür unserer geliebten Konzernokratie, die Union.›
Als Mann der Eintracht, fuhr er fort, habe er angesichts dieses enormen Hungers nach unterschiedlichen Epochen, Schauplätzen und Theorien sofort an einen inneren Emigranten gedacht. Innere Emigranten gäben äußerst vielversprechendes Rohmaterial für Eintracht-Agenten ab.
Dann erklärte mir mein ‹Gast›, wie er den wissbegierigen Eigentümer des Sonys als Nun Hel-Kwon identifiziert hatte, ein Geothermiker aus dem Schneesturmgebiet Onsōng, der im vorvergangenen Winter bei einem Skiunfall ums Leben gekommen war. Er hatte einen begabten Studenten mit der ganz altmodischen Detektivarbeit beauftragt, den Dieb aufzuspüren. Dieser hatte mittels E-Wellen-Überwachung den Sony-Rezeptor in Boom-Sook Kims Labor lokalisiert, aber der Gedanke, Boom-Sook könnte ein glühender Wittgenstein-Fan sein, spottete jeder Wahrscheinlichkeit. Also hatte Mephis Student vor sechs Wochen während der Ausgangssperre jedem Sony im Labor ein Mikroauge eingepflanzt. ‹Am nächsten Tag stellten wir fest, dass unser verhinderter Dissident kein Reinblüter war, sondern offenbar der erste stabile Aufsteiger in der Wissenschaftsgeschichte, eine Schwester-Bedienerin der berüchtigten Yoona~939. – Meine Arbeit, Sonmi, mag mitunter strapaziös und gefährlich sein, aber langweilig? Nie.›
     
    Es abzustreiten wäre sinnlos gewesen.
So ist es. Mephi war nicht Rhee. Der Vorstand

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