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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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werter Regisseur – in meiner Phantasie bist du ein ernsthafter, Rollkragenpullover tragender Schwede namens Lars –, jenen November als «Vorbereitung auf den großen Showdown» zu inszenieren. Marshall Cavendish erduldet seine Spritzen, ohne mit der Wimper zu zucken. Cavendish der Wissbegierige entdeckt die Sprache neu. Cavendish das wilde Tier wird von Dr.   Upward und Schwester Noakes gezähmt. John Wayne Cavendish am Gehwagen (ich war inzwischen zum Träger eines Stocks avanciert, den ich noch immer benutze. Veronica meint, er verleihe mir die Aura eines Lloyd George.) Cavendish, der gefesselte Visionär. Solange Cavendish durch die Amnesie betäubt war, führte er alles in allem ein recht zufriedenes Dasein.
    Dann, lieber Lars, schlägst du einen düsteren Ton an.
    Die Sechsuhrnachrichten am ersten Dezember (überall hingen Adventskalender) hatten gerade angefangen. Ich hatte selbständig Bananenbrei mit Trockenmilch gegessen, ohne mein Lätzchen zu bekleckern. Schwester Noakes kam vorbei, und meine Mitinsassen verstummten wie Singvögel im Schatten eines Habichts.
    Ganz plötzlich wurde mein Erinnerungskeuschheitsgürtel aufgeschlossen und entfernt.
    Ich hätte lieber drauf verzichtet. Meine «Freunde» in Haus Aurora waren senile Flegel, die beim Scrabble mit bestürzender Unbeholfenheit mogelten und allein deshalb nett zu mir waren, weil im Königreich der Toten der Allerschwächste die gemeinsame Maginot-Linie gegen den unbezwingbaren Führer darstellt. Es war jetzt einen ganzen Monat her, dass mein rachsüchtiger Bruder mich hatte einsperren lassen, und ganz offensichtlich wurde keine landesweite Großfahndung durchgeführt. Ich würde meine Flucht allein herbeiführen müssen, doch wie sollte ich dem mutierten Platzwart Withers davonlaufen, wenn ich für fünfzig Meter eine Viertelstunde benötigte? Wie Noakeszilla austricksen, wenn ich mich nicht mal an meine Postleitzahl erinnern konnte?
    Ach, das Grauen, das Grauen. Der Bananenkleister blieb mir in der Kehle stecken.
     
    Mit wieder erstarktem Verstand beobachtete ich die Dezemberrituale von Mensch, Tier und Natur. In der ersten Dezemberwoche fror der Teich zu, und empörte Enten schlitterten über das Eis. Morgens war es in Haus Aurora eisig kalt, abends siedend heiß. Die geschlechtslose Pflegekraft, die auf den Namen Deirdre hörte, schmückte die Lampen mit Lametta, leider ohne vom Stromschlag dahingerafft zu werden. Auf einmal stand ein Plastikbaum in einem mit Krepppapier umwickelten Eimer da. Gwendolin Bendincks rief zum großen Weihnachtsgirlandenbasteln, zu dem die Untoten strömten, ohne dass sich beide Parteien der Ironie dieses Bildes bewusst gewesen wären. Die Untoten rissen sich lautstark darum, ein Türchen im Kalender öffnen zu dürfen, ein Privileg, das die Bendincks so großmütig gewährte, als wäre sie die Queen persönlich. «Alle mal herhören, Mrs.   Birkin hat einen spitzbübischen Schneemann gefunden, ist das nicht hinreißend?» Als Schwester Noakes’ Hütehunde hatten sie und Warlock-Williams ihre Überlebensnische gefunden. Ich dachte an Primo Levis Die Untergegangenen und die Geretteten .
    Dr.   Upward war einer jener aufgeblasenen, arroganten Armleuchter, wie man sie in Schulbehörden, im Rechtswesen oder in der Medizin findet. Er kam zweimal wöchentlich ins Haus Aurora, und wenn er mit seinen etwa fünfundfünfzig Jahren nicht die steile Karriere hingelegt hatte, zu der sein Name «Dr.   Aufwärts» ihn verpflichtete, lag es nur an den abscheulichen Hindernissen, die sich jedem Emissär der Heilkunst in den Weg stellen, nämlich an uns, den Kranken . Ich hatte ihn schon als möglichen Verbündeten abgeschrieben, als ich ihn das erste Mal zu Gesicht bekam. Und auch die teilzeitangestellten Hinternwischer, Wannenschrubber und Pampenköche waren nicht bereit, ihre gehobene Stellung in der Gesellschaft durch die Befreiung eines ihrer Schutzbefohlenen aufs Spiel zu setzen.
    Nein, ich saß in Haus Aurora fest. Eine Uhr ohne Zeiger. «Freiheit!» heißt der alberne Jingle unserer Zivilisation, doch haben nur diejenigen, die ihrer beraubt wurden, eine leise Ahnung, was es damit auf sich hat.
    Ein paar Tage vor dem Geburtstag unseres Heilands tauchte eine Kleinbusladung Privatschulbälger zum Weihnachtsliedersingen auf. Die Untoten krächzten mit falschem Text und Todesröcheln mit, und der Radau trieb mich davon; das war nicht einmal mehr amüsant. Ich humpelte auf der Suche nach meiner verlorenen Vitalität durchs

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