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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Ende sehen, dessen Anfang ich in der einzigen glücklichen Stunde meines Lebens sah.

Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish
    «Mr.   Cavendish? Sind wir wach?» Eine Lakritzschlange schlängelt sich durch ein Feld aus Sahne. Die Zahl 5. Fünfter November. Warum tut mein alter Johannes so weh? Ein böser Streich? Mein Gott, in meinem Pimmel steckt ein Schlauch! Ich versuche mich zu befreien, aber meine Muskeln gehorchen mir nicht. Eine Flasche über mir versorgt einen Schlauch. Der Schlauch versorgt eine Nadel in meinem Arm. Die Nadel versorgt mich. Ein starres Frauengesicht, umrahmt von einer Pagenfrisur. «Eijeijeijeijei. Haben Sie ein Glück, dass Sie hier umgekippt sind, Mr.   Cavendish. Unverschämtes Glück. Wenn wir Ihnen erlaubt hätten, durch die Heide zu stromern, lägen Sie jetzt tot in einem Graben!»
    Cavendish, ein bekannter Name, Cavendish, wer ist nur dieser «Cavendish»? Wo bin ich? Ich will sie fragen, aber ich kann nur quieken wie Peter Hase, der vom Turm der Kathedrale von Salisbury gestoßen wird. Dunkelheit umfängt mich. Gott sei Dank.
     
    Eine 6. Sechster November. Hier bin ich schon einmal aufgewacht. Das Bild eines strohgedeckten Cottage. Worte auf Kornisch oder Druidisch. Der Pimmelschlauch ist weg. Es stinkt. Wonach? Meine Waden werden angehoben, und mein Hintern wird flink mit einem kalten, nassen Tuch abgewischt. Exkremente, Kot, widerliches, klumpiges, schmierendes … Aa. Habe ich auf einem Schlauch mit Kot gesessen? Oh. Nein. Wie konnte mir das passieren? Ich versuche, mich gegen den Lappen zu wehren, aber mein Körper zittert nur. Ein mürrischer Roboter blickt mir in die Augen. Eine abgelegte Geliebte? Ich habe Angst, dass sie mich küssen will. Sie leidet an Vitaminmangel. Sie muss mehr Obst und Gemüse essen, ihr Atem stinkt. Aber wenigstens hat sie ihre Motorik im Griff. Wenigstens kann sie auf Toilette gehen. Schlaf, Schlaf, Schlaf, komm und erlöse mich.
     
    Sprich, Erinnerung. Nein, nicht ein Wort. Mein Hals bewegt sich. Halleluja. Timothy Langland Cavendish kann seinen Hals befehligen, und sein Name ist heimgekehrt. Siebter November. Ich erinnere mich an ein Gestern und sehe ein Morgen. Die Zeit, weder Pfeil noch Bumerang, sondern eine Ziehharmonika. Druckgeschwüre. Seit wie vielen Tagen liege ich hier? Muss passen. Wie alt ist Tim Cavendish? Fünfzig? Siebzig? Hundert? Wie kannst du deinen Namen vergessen?
    «Mr.   Cavendish?» Ein Gesicht treibt an die trübe Oberfläche.
    «Ursula?»
    Die Frau späht ins Zimmer. «War Ursula Ihre werte Gattin, Mr.   Cavendish?» Vertrau ihr nicht. «Nein, ich bin Mrs.   Judd. Sie hatten einen Schlaganfall, Mr.   Cavendish. Verstehen Sie mich? Einen klitzekleinen Schlaganfall.»
    Wann ist das passiert? , wollte ich fragen. «Ahns-as-bsiert» kam heraus. «Darum ist alles so durcheinander», sagte sie mitfühlend. «Aber keine Bange, Dr.   Upward meint, wir machen tolle Fortschritte. Auch ohne grässliches Krankenhaus!» Ein Schlaganfall? Schlag mich? Schlagbohrer? Margo Roker hatte einen Schlaganfall. Margo Roker?
    Wer sind all diese Leute? Erinnerung, du alte Drecksau.
     
    Diese drei Vignetten sind eigens für jene glücklichen Leser bestimmt, deren Seelenleben noch nicht von einem geplatzten Blutgefäß im Gehirn in Schutt und Asche gelegt worden ist. Timothy Cavendish wieder zusammenzusetzen glich der Herausgabe eines Werkes von tolstoischen Dimensionen, selbst für den Mann, der einst die neunbändige Geschichte der Mundhygiene auf der Isle of Wight auf siebenhundert Seiten zusammengestrichen hatte. Erinnerungen wollten sich partout nicht einfügen, und wenn doch, lösten sie sich wieder. Woran würde ich in ein paar Monaten erkennen, ob nicht ein wesentlicher Teil meines Ichs für immer verloren war?
    Sicher, es war ein relativ leichter Schlaganfall gewesen, aber der Monat, der darauf folgte, war der demütigendste meines Lebens. Ich sprach wie ein Spastiker. Meine Arme waren leblos. Ich konnte mir nicht einmal allein den Hintern abwischen. Mein Geist schlurfte im Nebel umher und war sich doch voller Scham seiner Beschränktheit bewusst. Ich brachte es nicht über mich, den Arzt, Schwester Noakes oder Mrs.   Judd zu fragen: «Wer sind Sie?», «Kennen wir uns?», «Was wird aus mir, wenn ich entlassen werde?» Aber ich fragte immer wieder nach Mrs.   Latham.
    Basta! Ein Cavendish mag am Boden liegen, aber geschlagen gibt er sich nie. Wenn Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish verfilmt wird, rate ich dir,

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